Kreuzzug
Aber er würde sicher nur eine Zehntelsekunde brauchen, um den Finger um den Abzug zu legen und durchzuziehen, falls Thien aufspringen und sich gegen ihn werfen würde. Und dann würden eine weitere Zehntelsekunde später Splitter von Thiens Schädelknochen zusammen mit einem Batzen Gehirnmasse an der Aluminiumwand des Waggons kleben.
Thien blickte zu Craig hinüber. Der wirkte höchst angespannt. Seine Wangenmuskeln arbeiteten deutlich sichtbar, er mahlte mit den Zähnen. Sicher heckte er etwas aus. Hoffentlich war es nichts, was zu einem Massaker im Waggon führte, dachte sich Thien.
Plötzlich kam von vorn wieder Bewegung in den Zug. Thien sah auf und erkannte die bunte Jacke des jungen Snowboarders. Sie brachten ihn zurück. Er schluchzte und wimmerte, als sie ihn auf seinen Platz stießen. Durch die Reihen der Passagiere ging ein deutliches Aufatmen. Die Terroristen hatten die Geisel verschont. Anscheinend war man auf ihre Forderungen eingegangen. Hoffnung machte sich breit. Vielleicht war es bald zu Ende und überstanden.
Thien fragte sich, ob das ein Ende wäre, das er gut finden konnte. Einfach freigelassen werden. Ohne Kampf. So wie diese ganzen Holländer, Amerikaner, Russen hier im Zug. Diese Touristen. Einfach passiv die Entführung überstehen und gegen Lösegeld freikommen. Während der neue Mann an Sandras Seite vielleicht dort draußen im Einsatz war und die Terroristen verfolgen würde.
Aber wie wollten die Geiselnehmer von hier verschwinden? Das war Thien vollkommen schleierhaft. Aber sie kannten bestimmt einen Weg.
Wie dem auch sei, wenn man ihn – Thien – so einfach freiließ, war das wenig heldenhaft.
Was hätten wohl die anderen Geiseln gedacht, hätten sie gewusst, dass er insgeheim auf eine Eskalation der Situation hoffte, damit er seinen Mann stehen konnte?
Kapitel vierundachtzig
Eibsee-Hotel , 9 Uhr 28
S ie haben ihn hochgezogen!«, jubelte Katastrophenschützer Hans Rothier. »Sie haben ihn nicht abstürzen lassen! Sie sind ein Genie, Frau Dembrowski!« Der übernächtigte Beamte des Landratsamtes kriegte sich nicht mehr ein. Alle Männer im Raum fielen in den Jubel ein und klatschten.
»Ruhe! Wenn ich um Ruhe bitten darf!«, rief Kerstin Dembrowski in den Jubel hinein und brachte die Männer um sich herum augenblicklich zum Verstummen. »Wir haben noch gar nichts erreicht. Wir wissen nicht, was die als Nächstes vorhaben. Vielleicht werfen sie lieber zehn Leute hintereinander die Wand runter. Also bitte, bleiben wir professionell.«
Die Männer sahen ein, dass die junge Frau recht hatte. Natürlich waren immer noch zweihundert Menschen in der Zugspitzbahn und fünftausend auf dem Gipfel und dem Platt gefangen. Auch wenn von der Bundeswehr regelmäßig die Meldung kam: »Alles ruhig, alles unter Kontrolle«, war das dort oben ein Pulverfass. Die Menge konnte jederzeit in Panik geraten, und dann würde es wer weiß wie viele Tote in den engen Gängen und Treppenhäusern der Gipfelstationen geben. Dazu müssten die Terroristen gar keine Bomben zünden oder etwas Vergleichbares tun. Es genügte schon, wenn sie ein kleines Feuer an der einen oder anderen Stelle legten.
Auf einmal erschien eine neue Botschaft auf der Webseite der Entführer.
200 GEGEN 200
+
100 000 PRO KOPF
Kerstin Dembrowski tippte sofort los. Am Gegenrechner saß gerade jemand und hatte eine neue Forderung gestellt. Darauf musste sofort reagiert werden, denn wie abgebrüht der Kerl auf der anderen Seite auch sein mochte, er war in diesem Moment in einem sehr hohen emotionalen Erregungszustand. Er wusste ja auch, dass die ganze Welt ihm zusah.
200 GEGEN 200: o.k.
20 MILLIONEN: WÄHRUNG?
Sie hielt es für das Beste, die Gegenseite in Detailfragen zu verwickeln. Natürlich würde man weder zweihundert gefangene Extremisten auf freien Fuß setzen, noch Erpresser mit einer derartig riesigen Geldsumme entkommen lassen. Es ging nur darum, Zeit zu gewinnen. Und darum, die Terroristen in Sicherheit zu wiegen. Nur, wenn sie das Gefühl hatten, die Fäden in der Hand zu halten, würden sie ihre Trümpfe, die Leben der Geiseln, nicht ausspielen.
Lange Minuten vergingen. Endlich schrieben die Geiselnehmer:
FALSCH: 20 MILLIONEN.
RICHTIG: 5200 x 100000 = 520 MILLIONEN
»Sind die denn total irre? Fünfhundertzwanzig Millionen, in welcher Währung auch immer?« Der BND -Mann schüttelte fassungslos den Kopf. »Wer, in Gottes Namen, kann innerhalb von ein paar Stunden eine halbe
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