Kreuzzug
der für den hinteren Teil des Waggons zuständig war, suchte sich eine andere Position. Er lehnte sich nicht an die Rückwand, sondern gegen die verschlossene Tür wenige Meter weiter vorne. Endlich stand kein Mann mit Maschinenpistole mehr direkt neben Thien. Draußen liefen die Männer mit den schwarzen Overalls um den Zug herum.
Da der Aufpasser nicht mehr in unmittelbarer Nähe stand und die Geiselnehmer draußen alles andere als leise waren, wagte es Thien, den Snowboarder anzusprechen.
»Was war da vorn los?«, flüsterte er so leise, dass er es selbst beinahe nicht verstehen konnte.
Doch das Adrenalin im Blut des jungen Burschen hatte immer noch eine Konzentration, die all seine Sinne schärfte. Er verstand, wollte flüsternd antworten, doch ihm versagte die Stimme. Er räusperte sich.
Der Bewacher blickte zu ihm herüber und sah den Jungen kreidebleich auf seinem Platz sitzen. Er stufte ihn nicht als Sicherheitsrisiko ein und schaute wieder in die andere Richtung.
»Die Wand. Sie haben ein Loch reingesprengt. Runterhängen haben’s mich lassen. Überm Eibsee .« Tränen liefen dem jungen Mann über die Wangen.
»Pssss. Wird alles wieder gut. Wie viele?«
Nach einem Moment fing sich der Snowboarder wieder.
»Fünf oder sechs. Die haben ein Maschinengewehr. Und einen Haufen Alukisten.«
Thien rechnete zusammen. Hinter dem Zug lag ein Mann im MG -Nest. Zwei Männer bewachten die Passagiere. Vorn auch einer im MG -Nest. Und fünf oder sechs, die sein Banknachbar beschrieb. Insgesamt nicht mehr als vielleicht zehn Mann. Müsste machbar sein. Er fragte sich allerdings, was in den Alukisten war. Sprengstoff, Verpflegung, Ausrüstung, vermutete Thien. Er blinzelte zu Craig hinüber: »Zehn Mann.« Der nickte kaum merklich.
Thien traute der Ruhe nicht, die sich im Zug breitgemacht hatte, nachdem der Snowboarder nicht erschossen worden war. Er machte sich darauf gefasst, jederzeit losschlagen zu müssen. Craig wollte den Mann am hinteren Maschinengewehr übernehmen, Thien musste die Bewacher in ihrem Teil des Zuges ausschalten, idealerweise auch die, die im Waggon vorn standen. Und dann müssten sie alle anderen Geiselnehmer überwältigen. Ohne Hilfe von außen konnten sie hier nicht alle heraus. Für ihn und vielleicht zehn andere in diesem Zug wäre es möglich, über das Tunnelfenster abzuhauen, vorausgesetzt, sie hätten ein Seil, das lange genug war. Die Nordwände der Riffelspitzen, in denen sich die Tunnelfenster befanden, waren steil und Hunderte Meter hoch. Für die Normalmenschen in diesem Zug wäre das nicht zu machen. Also mussten die Geiselnehmer weg. Ausgeschaltet, eliminiert werden. Sie mussten tot sein, eine schnelle Flucht, einfach den Kopf einzuziehen und wegzurennen, war ausgeschlossen.
Thien versuchte, positiv zu denken. Die richtige Gelegenheit würde sich bieten. Und dann würde er hier rauskommen. Und er würde sein Leben ändern. Er würde Sandra wieder an seine Seite zurückholen. Sich mit ihr niederlassen. Sandra würde vielleicht gar nicht aus ihrer Heimat wegwollen. Na gut, dann in Garmisch-Partenkirchen . Oder seinetwegen in Mittenwald – der Soldat würde ja sicher irgendwann einmal versetzt werden. Oder irgendwo dazwischen. In Krün oder Wallgau, wenn es sein musste. Oder vielleicht in Murnau. Da hatte man die Berge nicht zum Greifen nahe, aber ständig im Blick. Sie würden einen Kachelofen haben, zwei Katzen und einen Berner Sennenhund. Sie würden heiraten, Kinder haben.
Er würde töten müssen, um dieses Leben zu bekommen. Und er musste töten, um nicht selbst getötet zu werden.
Kapitel vierundneunzig
Tunnelportal Riffelriss , 10 Uhr 55
D es wahren Deutschen Pünktlichkeit ist fünf Minuten vor der Zeit!«, murmelte Kerstin Dembrowski, als die Zahnradlok mit den sechs GSG 9 -Kommandomitgliedern im Führerstand und dem Waggon im Schub wenige Meter vor dem Portal Riffelriss anhielt. An dieser Stelle fuhren die Züge in den Tunnel ein. Das automatische Rauch- und Brandschutztor war verschlossen.
Kapitän Dembrowski ging zum hinteren Ende des Passagierwagens und bedeutete Franz Hellweger und den GSG 9 -Männern durch das Fenster in der Lok, in Deckung zu gehen. Ab jetzt war diese Angelegenheit erst einmal die ihre.
Kerstin Dembrowski wollte den oder die Geiselnehmer im Wagen empfangen. Wenn er oder sie denn einsteigen würden. Noch war nicht klar, ob überhaupt jemand von der Gegenseite zum Verhandeln erscheinen würde. Denn wo sollten sie herkommen? Kerstin
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