Kreuzzug
kroch. Sie war überrascht, dass es der Geiselnehmer in Schwarz war. Wie konnte er plötzlich hinter ihr gewesen sein, nachdem sie rund fünfzig Meter durch den sich oben verjüngenden Stollen gekrochen war? Sie musste an ihm vorbeigerobbt sein. Hatte er sich in einer Nische versteckt gehalten? Oder gingen von diesem seltsamen Tunnel weitere Abzweigungen ab? Oder war der Mann gar nicht in diesem kleinen Stollen gewesen, sondern im großen Zahnradtunnel weitergegangen, um dann wieder zurückzukehren und ihr zu folgen?
Als er sie schließlich stellte, verhielt er sich zu Kerstins Verwunderung nicht aggressiv ihr gegenüber. Ohne nach den Gründen ihrer Anwesenheit im Tunnel zu fragen, bot er sich an, sie zu seinen Komplizen zu bringen. »You want to visit our leader?« Natürlich wollte sie den Anführer aufsuchen.
So krabbelten sie zu zweit durch einen mal enger, mal wieder breiter werdenden Felsspalt. Am Anfang hatte der Stollen noch eine regelmäßige Form gehabt, unten breiter und oben schmaler. Sicher von Menschenhand geschaffen, meinte Kerstin Dembrowski. Ein alter Bergwerkstollen. Wie kam der in das Zugspitzmassiv?
Nach wenigen hundert Metern knickte der Stollen nach links ab, und danach ging es an manchen Stellen über schmale Felsbänder am Rand eines Abgrundes entlang. Dann verengte sich der Gang wieder auf wenige Dezimeter, sodass jemand, der breiter als der Mann in Schwarz oder Kerstin Dembrowski gewesen wäre, sich nur mit Not hätte durchzwängen können. Die Kriecherei war anstrengend, denn ganz nebenbei legten sie ein paar hundert Höhenmeter zurück. Der Schweiß lief Kerstin Dembrowski in Bächen über den Rücken. Für den Einsatz im Berg hatte sie eindeutig zu warme Sachen an.
Auf einmal ging es nur noch nach oben weiter. Kerstin Dembrowski erblickte das Ende einer Stahl-Strickleiter und sah im Schein ihrer Stirnlampe an ihr nach oben. Nach rund zwanzig oder dreißig Metern verlor sich die Leiter im Dunkeln.
Ohne ein Wort zu sagen, griff ihr Begleiter das linke Seil und setzte seinen Fuß auf die unterste Sprosse. Er kletterte behende nach oben, und Kerstin Dembrowski hatte große Mühe, ihm zu folgen. Zwar hatte sie während der Ausbildung das Auf- und Absteigen an Strickleitern aus Hubschraubern und von Hochhäusern geübt, aber ihr täglich Brot war es nicht geworden. Der Mann jedoch machte den Eindruck, als habe er diese Strickleiter schon mehrfach benutzt.
Die Kletterei war noch anstrengender als das Kriechen und Robben im Stollen, der hinter ihr lag. Die Leiter schien kein Ende zu nehmen. Rings um sie wurde der Spalt einmal breit, dann wieder eng, aber die ganze Zeit war sie von vollkommener Dunkelheit umgeben. An den Wänden lief in Rinnsalen Wasser hinab, und bald war ihr Overall mit Schlamm beschmiert. Schließlich drang von oben ein diffuses Licht in die Felsspalte.
Kerstin Dembrowski konzentrierte sich darauf, nicht mit den Händen abzugleiten oder sich mit den dicken Schuhen zwischen den Sprossen zu verfangen. Sie war sicher über fünfzig, vielleicht knapp hundert Meter nach oben gestiegen. Ein Absturz bedeutete unausweichlich den Tod.
Unvermittelt erreichte sie das Ende der Leiter, die hinter einer Felskante mit einem starken Metallstift im Fels befestigt war. Kerstin Dembrowski blinzelte über die Kante und wurde von einem grellen Scheinwerfer geblendet. Sie wandte den Kopf nach rechts. Dort stand ein Triebwagen der Bayerischen Zugspitzbahn . Sie war im Tunnel bei den Geiselnehmern und den Geiseln angekommen.
»Frau Dembrowski, wir haben Sie wieder«, hörte sie eine Stimme in ihrem In-Ear-Empfänger.
Sie ließ die Botschaft unkommentiert und bemühte sich, nicht daran zu denken, von wo in ihrem Körper das Signal kam, das im Innern des Felsens nicht durch die massiven Wände hatte dringen können und nun durch die unzähligen Leitungen im Tunnel wieder einen Weg nach draußen fand. Zu diesem Zeitpunkt wollte sie auf keinen Fall verraten, dass sie mit der Einsatzzentrale in Verbindung stand.
»Wo sind Sie? Im Tunnel? Bitte bestätigen Sie!«
Wieder sagte sie nichts, räusperte sich aber deutlich. Endlich. Die Stimme in ihrem Ohr gab Ruhe.
Der Mann in Schwarz, der sie hergebracht hatte, war nicht mehr da. Oder er war einer in der Gruppe der drei, die die Mündungen ihrer Maschinenpistolen auf sie gerichtet hatten.
Kapitel hundertzwei
Eibsee-Hotel , 12 Uhr 14
S eit einer guten Stunde saß August Falk in einem Nebenzimmer des Konferenzraums »Forelle«. Er hatte alle
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