Kreuzzug
direkt auf den Halsstumpf des Toten. Er zwang sich, genau hinzusehen, damit seine Helmkamera auch jedes blutige Detail auffing und die Leute am Eibsee und in Berlin alles sahen.
Erst einmal hörte der Truppführer nur ein vielstimmiges »O Gott« in seinem Ohr.
Das reichte ihm nicht. »Ich will jetzt wissen, was hier los ist! Hier gibt es Löcher, die keiner kennt. Könnt ihr uns, verdammt noch mal, mit ordentlichen Infos versorgen, bevor wir hier einzeln abgeschlachtet werden?«
»Ihre Schutzperson ist wieder aufgetaucht. Laut Daten aber zweihundert Höhenmeter über Ihnen. Es muss irgendwelche Gänge und Schächte geben.«
»Großartig. Herzlichen Glückwunsch. Könntet Ihr da bitte mehr in Erfahrung bringen? Wäre außerordentlich hilfreich!«
»Sie gehen jetzt wieder zum Tunnelausgang. Sie werden abgelöst. Bergen Sie den Kameraden. Ende.«
Der Truppführer nickte und sagte ein leises »Verstanden« ins Mikro. Und zu seinem Trupp: »Wer geht da rein und holt den Rest?«
Der junge Kollege trat vor, ließ sich nieder und robbte wieder in den niedrigen Stollen. In der GSG 9 war es üblich, einen Job zu Ende zu bringen.
Kapitel hundertfünf
Im Tunnel , 12 Uhr 25
T hien sah durch das Seitenfenster des Waggons eine Person, die ihm bisher noch nicht aufgefallen war. Sie war zierlich, trug einen roten Overall und inspizierte in Begleitung von drei bewaffneten Geiselnehmern den Zug. Es war eine Frau, die schweigend die Waggons abschritt, hinter dem Zug kehrtmachte und wieder nach vorn ging. Wo kam die auf einmal her? Und wieso war sie nicht vermummt? Gehörte sie gar nicht zu den Geiselnehmern, sondern war jemand von draußen? Eine Unterhändlerin? Wie in Gottes Namen war sie in den Tunnel gelangt? Hatten sie die Felsstürze beiseitegeräumt? Oder war die Frau durch das Tunnelfenster geklettert? In diesem Fall musste sie eine ausgezeichnete Alpinistin sein.
Ihre Ausrüstung, vor allem ihre Schuhe, sahen allerdings nicht danach aus. Zudem war ihr roter Overall, das hatte Thien genau gesehen, mit Schlamm verschmutzt. So sah man eher aus, wenn man durch eine Höhle gekrochen war, dachte Thien, und nicht, wenn man eine verschneite Steilwand nach oben geklettert war.
Er blickte fragend zu Craig hinüber, doch der konnte sich auf das Auftauchen dieser Frau auch keinen Reim machen. Er meldete sich aber beim Bewacher im Waggon, weil er angeblich pinkeln müsste. Wahrscheinlich wollte er sich draußen genauer umsehen. Der Wunsch wurde ihm auch prompt gewährt.
Thien wunderte sich, dass Craig nicht wie all die anderen Geiseln, die während der letzten vierundzwanzig Stunden austreten mussten, nach hinten geführt wurde. Diesmal kam einer der Geiselnehmer und holte Craig nach vorn. Was hatte das nun zu bedeuten? Waren hinter dem Zug die hygienischen Zustände mittlerweile so arg, dass sich die Leute nun vor dem Zug erleichtern sollten? Doch warum sollte das diese Verbrecher kümmern? Oder sollte Craig der Frau im roten Overall als Geisel präsentiert werden?
Thien zwang sich, seine Neugierde und Ungeduld zu bezähmen. Jetzt Krawall zu schlagen würde vielleicht kurz vor Ende der Geiselnahme alles gefährden. Oder dachte er sich die Situation damit nur schön? Wurde er Opfer der Hoffnungsfalle, die Menschen in bedrohlichen Situationen so lange nichts unternehmen ließ, bis es zu spät war? Sollte er einfach den Mann, der zwei Meter von ihm entfernt stand, mit der Kamera niederschlagen, aus dem Wagen springen und hinter dem Zug das MG unter seine Kontrolle bringen?
Die Geiselnehmer waren abgelenkt, die Gelegenheit war günstig. Auch der Mann in den schwarzen Klamotten achtete eher drauf, was sich vor dem Zug um die Frau im roten Overall tat. Ja, jetzt oder nie. Was wusste Thien, wer diese Frau war und was sie vorhatte. Vielleicht war sie sogar die Anführerin und hatte sich die ganze Zeit über unter den Fahrgästen versteckt.
Er würde jetzt handeln. Seit vierundzwanzig Stunden saßen sie alle hier fest. Es stank erbärmlich. Er kämpfte seit einem ganzen Tag gegen die anschwellenden Klaustrophobieanfälle an. Er musste hier raus. Am Ende würden diese gewissenlosen Schweinehunde sie doch alle abschlachten. Wie den Mann, dessen Blut dort drüben noch am Boden zu sehen war. Oder man würde sie aus dem Tunnelfenster werfen wie den Jungen, der vollgepisst neben ihm hockte und nur noch vor sich hin bibberte.
Diese Mistkerle hatten genug Leute drangsaliert. Terrorisiert. Traumatisiert. Jetzt. Musste. Etwas.
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