Kreuzzug
Bahamas im Winterurlaub«, berichtete der Staatssekretär des Innern, dessen Dienstherr ebenfalls noch im Urlaub weilte, ebenso wie der Außenminister. Beide wollten innerhalb dieses Tages die Heimreise antreten, um der Kanzlerin »zur Seite zu stehen«, wie sie es genannt hatten. Sie hoffte, bis dahin alle Probleme gelöst zu haben. Große Hilfe versprach sie sich von den beiden Herren nicht.
»Mein Gott, sind denn alle auf diesem Planeten in Urlaub?«, motzte die Kanzlerin.
»Ich habe persönlich in seinem Hotel angerufen«, rechtfertigte sich der Staatssekretär, »aber die Hotelangestellten haben sich zuerst nicht getraut, ihn zu wecken. Als ich ihnen endlich klarmachen konnte, wer ich bin und dass es um Leben und Tod geht, haben sie an der Tür seiner Suite geklopft. Leider war er nicht da. Seine Frau wusste nicht, wo er nächtigt. Sie führen wohl eine … sagen wir, offene Ehe.«
»Auch das noch!«, empörte sich die Grünen-Vorsitzende. »Es darf doch nicht sein, dass Terroristen fünftausend Geiseln länger als nötig festhalten, weil sich der CEO einer amerikanischen Kreditkartenfirma durch die Bahamas vögelt!«
»Ist aber so«, bemerkte die Kanzlerin emotionslos. Seit sie während des Weltwirtschaftsforums in Davos eine Hoteletage mit dem französischen und dem italienischen Regierungschef geteilt hatte, wunderte sie in dieser Beziehung gar nichts mehr. »Ist ja klar, dass das bei der Bank für Gemeinsinn, bei der Sie Ihre reichhaltigen Diäten in Windkraft anlegen, nicht passiert. Der Vorstand einer Öko-Bank fährt über Weihnachten sicher mit dem Zug nach Damp. Wie unsexy.«
»Muss ich mir das hier …«, begann die Grünen-Chefin aufgebracht.
Sie wurde vom Referenten des Innenministers unterbrochen, der, mit einem Notizblock wedelnd, in den Konferenzraum lief. »Wir bekommen die Ultraschwarze!«, rief er in die Runde. »In dem Moment, in dem das Gold im Schweizer Bunker quittiert wird, schicken sie einen Flieger los.«
»Von wo?«, fragte sein Staatssekretär.
»Haben sie nicht gesagt. Aber er kann in einer Stunde in München landen!«
»Also stellen sie diese Karten irgendwo bei uns in der Nähe her«, bemerkte die Kanzlerin.
»Wie dem auch sei«, sagte der Staatssekretär. »Hauptsache, wir haben die Karte!«
»Na, Sie machen mir Spaß. Hauptsache, wir sind wieder ’ne gute Milliarde los, oder wie meinen Sie das? Und das alles nur, weil das Innenministerium die Terrorgefahr unterschätzt hat!« Der aufgestaute Ärger der Kanzlerin entlud sich über dem Stellvertreter ihres Ministers. »Aber da werden wir aufräumen, das kann ich Ihnen versprechen. Und von wegen Kleiner Lauschangriff. Ich werde Sicherheitsgesetze durch den Bundestag und den Bundesrat prügeln, die Sie sich in ihrer Schärfe bisher nicht vorstellen konnten. Das haben Sie jetzt alle von Ihrer Weichspülermentalität.« Sie fing sich wieder. Die Dinge mussten der Reihe nach erledigt werden: erst die Terroristen, dann die Gesetze. »Ich weise hiermit die Lieferung von Gold im Wert von eins Komma drei eins zwo fünf Milliarden Euro an das Lager der Unex Corporation im Atombunker der Firma SecureSwiss in Uri an.«
Sie klappte die schwarze Lederschreibmappe auf, in der das vorbereitete Dokument lag, schraubte den Füllfederhalter auf und unterzeichnete. Dann wartete sie kurz, bis die Tinte angetrocknet war, und richtete den Blick in die Runde.
»Und auch wenn das kein Gesetz so vorsieht: Ich möchte, dass dieses Dokument von den anwesenden Ministern und den Spitzen der Fraktionen des Deutschen Bundestages mit unterzeichnet wird.« Mit diesen Worten schob sie die Mappe nach links zu ihrem Sitznachbarn, dem Staatssekretär des Innern, weiter.
Kapitel hundertneun
Waggon der Zugspitzbahn , 12 Uhr 40
S ie brachten Thien nach vorn, wo Craig zwischen sechs der Geiselnehmer und der Frau im roten Overall stand.
»Craig Hargraves, mein Name«, stellte sich der ältere Amerikaner auf Deutsch vor. Sie hatten seit vierundzwanzig Stunden gemeinsam im Waggon ausgehalten und mit ihrer Augenmorserei miteinander kommuniziert. Da war es Zeit, sich die Hand zu geben und die Stimme des anderen zu hören.
»Thien Hung Baumgartner. Ich verstehe nicht, was hier passiert.« Thien kam die eigene Stimme nach so langer Schweigezeit fremd vor.
»Herr Baumgartner, ich bin Kapitän zur See Kerstin Dembrowski von der deutschen Bundesmarine«, brachte sich die junge Frau im roten Overall ins Spiel. »Ich bin die von der deutschen Bundeskanzlerin
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