Krieg der Sänger
möchte noch darüber nachdenken.«
»Worüber? Die alte Frage, wie Gott so etwas zulassen konnte? Oder
wie du dieser bösartigen Intrige doch noch etwas Gutes abgewinnst, du
Dialektiker?«
»Lass mir einfach noch etwas Zeit.«
»Die sollst du haben«, sagte der Teufel, indem er die Felle und
Decken von seinem Schoß entfernte und sich von seinem Stuhl erhob. »Aber ich
muss fort. Bald graut der Morgen.«
»In den Hörselberg?«
»Ich bin überall zu Hause«, antwortete der Schwarze lächelnd. »Wir
sehen uns morgen Nacht, Bruder Martin.«
Und so verabschiedete sich der Teufel und ließ nichts zurück
außer den Abfällen der Haselnüsse und dem grotesken sechsfachen Kadaver. Luther
traute sich nicht, die Ratten in die Hand zu nehmen, weswegen er sie mit der
Spitze seines Schuhs in eine Ecke schob. Sollte einer der Knechte sie am Tage
beseitigen. Die Scherben des Tintenfasses knirschten unter seinen Sohlen. Für
den schwarzen Fleck an der Wand musste er sich noch eine Ausrede einfallen
lassen.
Wenig später erlosch auch die zweite Kerze. Luther legte sich in der
Dunkelheit aufs Bett, aber Schlaf wollte nicht kommen. Er suchte sich zu
beruhigen, indem er über das Leben Jesu nachsann, wie Matthäus es beschrieben
hatte, aber die Bilder Galiläas, des Erlösers und seiner Jünger vor seinem
geistigen Auge waren zu schwach: Immer wieder drängten sich die Protagonisten
des Sängerkriegs nach vorne, bis er sich schließlich fügte und ganz der
wunderlichen Erzählung des Teufels hingab. Er fragte sich, welcher der Sänger
wohl in der Stube gewohnt hatte, die nun seit einem halben Jahr sein Zuhause
war. Als es hell wurde, gab Luther den Versuch einzuschlafen endgültig auf.
Beim Morgengebet in der Kapelle fiel sein Blick immer wieder auf
den Taufstein, der einst die Richtstätte des unglücklichen Dietrich gewesen
war. An die Erzählung von der Mordnacht erinnert, prüfte er auch die Statue der
Maria. Das Jesuskind lag wohlbehalten in den Armen seiner steinernen Mutter,
aber deutlich war noch die Bruchstelle zwischen Hand und Arm zu sehen. Der
Teufel hatte also nicht gelogen. Wie und wohin auch immer sich das Jesuskind in
der Heiligen Nacht entfernt hatte, hatte es doch offensichtlich zurückgefunden.
Luther nahm sich vor, den Leibhaftigen darauf anzusprechen wie auch darauf, ob
Rüdiger der Fleischhauer in das Komplott verwickelt gewesen und was ihm
letztendlich widerfahren war.
Draußen auf dem Hof fragte sich Luther, an welcher Stelle wohl das
Blut Heinrichs von Ofterdingen geflossen war. Irgendwo in der Vorburg? Beim
Rosengarten? Oder sinnigerweise beim Hackklotz vor dem Stall?
Die Wartburg dieser Tage war nur ein Schatten der Wartburg unter
Hermann; welk im Vergleich zur Blüte von einst. Der mächtige Palas hatte sich
zwar gut gehalten, in alle anderen Gebäude aber und in den Wehrgang hatte sich
die Zeit gefressen. Der Verfall tat sein langsames Werk an Balken und Mörtel,
und in den Wunden im Mauerwerk hatten sich Parasiten wie Unkraut und Birken
festgebissen. Die Menschen waren von den Burgen in die Städte gezogen. Die
wenigen auf der Wartburg Zurückgebliebenen konnte man an zwei Händen abzählen,
und ihre einzige Aufgabe – neben der, Luther zu beherbergen – schien auch nur
darin zu bestehen, der vollkommenen Verwilderung der Burg Einhalt zu gebieten.
Keiner von ihnen schien besonderen Spaß an seinem Amt und an seiner Wohnstätte
zu haben. Offensichtlich empfanden sie in geringerem Maße das, woran Luther so
litt: dass die Burg nicht so sehr Zufluchtsort war als vielmehr ein Ort der
Verbannung, ein Patmos im Waldmeer der Thüringer Berge. In Wittenberg sollte er
jetzt sein, sollte Schriften gegen das Papsttum drucken, sollte seine Anhänger
antreiben und die Eiferer zügeln; seinen Feinden sollte er entgegentreten und
ihnen den Hals darbieten! Stattdessen war er wie ein feiger Deserteur aus der
Schlacht in diese Einsiedelei geflüchtet. Centrum mundi mochte
die Wartburg zur Zeit des Sängerstreits gewesen sein, doch anus
mundi war daraus geworden. Vielleicht war das der Fluch Heinrichs von
Ofterdingen gewesen: dass der Ort der Hinrichtung nach seinem Tod zu Ruinen
zerfällt. Luther konnte sich nicht erwehren, Mitleid oder zumindest Anerkennung
für den extravaganten Sänger zu empfinden.
Hans von Berlepsch, der Amtmann der Wartburg, trug Luther an, ihn zu
einer Jagd auf Hasen und Federwild zu begleiten. Saftiges Wildbret käme für das
bevorstehende Christfest nur recht, und das Wetter sei,
Weitere Kostenlose Bücher