Krieg der Seelen: Roman (German Edition)
einen bestimmten Ort auf, den sie zuvor gesehen hatte, landete dort und wartete, bis jemand zu ihr kam. Ort und Zeit veränderten sich immer wieder. Es gab kein bestimmtes Muster; sie erschien einfach. Nicht rein zufällig, aber auch nicht auf eine vorhersehbare Weise. Keine der armen, umnachteten Seelen sollte in der Lage sein, Informationen zu sammeln, auf deren Grundlage es gelingen konnte, den richtigen Ort und die richtige Zeit vorauszusagen.
Dennoch hatten die Leute eine Religion aus Chay und ihren täglichen Tötungen gemacht. Wie vom Dämonenkönig prophezeit und gewünscht: Sie hatte ein wenig Hoffnung in die Hölle zurückgebracht.
Manchmal dachte sie daran aufzuhören, aber wenn sie eine Pause einlegte, so dauerte sie nie länger als einen Tag. Sie hatte zu Anfang beschlossen, eine arme Seele pro Tag von ihren Qualen zu befreien, und wenn sie einmal experimentiert und für einen Tag aufgehört hatte, so war sie dafür mit Krämpfen bestraft worden, mit Schmerzen in ihren Eingeweiden, die sie mit Übelkeit erfüllten, und dann konnte sie kaum mehr fliegen. Bisher war das erst dreimal geschehen.
Immer musste– durfte– sie nur eine Seele pro Tag erlösen, auch dann, wenn sie tags zuvor niemanden getötet hatte. Wenn sie mehr tötete, kehrten die Betreffenden ins Leben zurück, manchmal fast sofort, selbst wenn ihre Körper aufgerissen und halb zerfetzt waren, und dann war ihren Gesichtern deutlich anzusehen, dass sie sich verraten fühlten, um den Tod betrogen.
Die anderen, die für immer ins Jenseits wechselten, verließen das Leben mit einer Dankbarkeit, die Chay zu schätzen gelernt hatte. Die anderen, die sich in der Nähe versammelten und zusahen, beobachteten das Geschehen voller Neid und Sehnsucht. Gelegentlich hatte Chay bestimmte Personen gewählt, weil sie allein oder nur von wenigen begleitet waren, denn sie hoffte, auf diese Weise der besonderen Last von Blicken, die sich den Tod wünschten, entkommen zu können.
Mit Leuten, deren Hoffnungen in der neuen Religion Wurzeln geschlagen hatten, konnte man nicht vernünftig reden. Chay hatte es versucht, ohne Erfolg. Die Wahrheit lautete: Sie konnte ihnen Erlösung von all ihrem Leid anbieten; sie war ein Engel, der hier tatsächlich existierte, den Leuten wirklich das bringen konnte, was sie sich wünschten. Die Sache beschränkte sich nicht einmal auf Glauben; es handelte sich vielmehr um Tatsachen.
Chay schwang sich in der klaren Luft empor und knabberte an dem Brocken, den sie zuvor vom Leichnam abgerissen hatte. Die beim Toten versammelte Menge war längst zu einem kleinen Fleck in der Tiefe geworden, halb verloren in der schorfigen Landschaft unter den Rauchwolken.
Weit in der Ferne glänzte etwas auf eine ganz und gar unvertraute Weise. Etwas schien dort fast zu schimmern, am Horizont, der von kleinen Bergen, hohen Klippen und sauren Seen gebildet wurde. Es war kein Hitzeflirren, stellte Chay fest, eher so etwas wie wässriges Sonnenlicht, so absurd eine derartige Vorstellung auch sein möchte. Immerhin war dies die Hölle, ein Ort, an dem es Licht ohne Sonne gab. Sie hielt genauer Ausschau und glaubte, eine Art breite, silberne Säule zu erkennen, halb unsichtbar zwischen Land und Wolken.
Chay nahm einen letzten Bissen, ließ den Rest des Fleisches fallen und flog der Anomalie entgegen.
Je näher sie kam, desto rätselhafter wurde die Erscheinung. Sie war wie ein seltsam unregelmäßiger Vorhang aus Silber, den jemand über die Landschaft gelegt hatte, einige Kilometer lang und vielleicht einen Kilometer dick, wie ein großer, halbwegs gleichförmiger Spiegel. Eigenes Licht ging nicht davon aus; der » Spiegel« reflektierte nur das Licht, das er empfing. Chay flog näher und bemerkte ihr Spiegelbild in der wie flüssig glitzernden Oberfläche.
Sie stieg durch die Wolken auf, um zu sehen, ob der Vorhang bis zum eisernen Himmel Dutzende von Kilometern weiter oben reichte. Es war eine solche Anstrengung für sie, dass ihre Muskeln brannten.
Schließlich ließ sie sich in die Tiefe fallen, sank durch die Wolken und landete. Füße und Beine taten weh, als sie ihr Gewicht zu spüren bekamen. Das war schon seit einer ganzen Weile der Fall. Ihre Beine schmerzten, wenn sie sich auf dem Boden befand; ihre Flügel schmerzten, wenn sie flog; und der ganze Körper klagte, wenn sie mit dem Kopf nach unten an ihrer Ruhestange hing. Chay versuchte, nicht darüber nachzudenken.
Dicht vor der silbernen Barriere lagen einige zerhackte Leichen auf
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