Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens
stecken Mubaraks Anhänger. Aus vielen Hotels, die in der Nähe des Platzes liegen, werden Reporter von der Staatssicherheit vertrieben. Manche Journalisten, die in meinem Hotel wohnen, werden vermisst, auf andere wird Jagd gemacht. Oder sie werden stundenlang im Militärhauptquartier verhört. Die Presse soll eingeschüchtert werden. Gut, dass wir Al-Dschasira haben. Auch wenn ich an der Professionalität und Neutralität des arabischen Senders zweifle, ein Teil des Erfolgs dieser Revolution ist Al-Dschasira zu verdanken. An den Tagen, als alle Telefon- und Internetleitungen unterbrochen wurden, war Al-Dschasira das Kommunikationszentrum der Revolution. Was auf dem Platz mündlich kommuniziert wurde, wurde später auf Al-Dschasira publik gemacht. Als am 1. Februar zum Marsch der Millionen aufgerufen wurde, war Al-Dschasira der einzige Kanal, der den Aufruf verbreitete. Als die Zahl der Demonstranten auf dem Tahrir-Platz abnahm, veröffentliche der Sender Aufnahmen, die zeigen, wie Polizeiwagen rücksichtslos Demonstranten überrollen, wie ein Demonstrant zusammenbricht, nachdem ihn ein Scharfschütze getroffen hat, und wie die Polizei betende Demonstranten mit Tränengas und Wasserwerfern beschießt.
Am Ende des Tages gehört der Tahrir-Platz wieder dem Protest. Die Mubarak-Anhänger werden von der Armee daran gehindert, weiter auf uns einzuprügeln. Und plötzlich, nach einigen hässlichen Tagen mit vielen Verletzten und Toten, kehrt die Volksfeststimmung zurück. Es wird Musik gemacht, getanzt, auch gebetet. Aber während es im westlichen Fernsehen so aussieht, als würde der ganze Tahrir-Platz zum Nachmittagsgebet antreten, sieht die Realität anders aus. Von einem Dach eines Hauses am Tahrir-Platz aus beobachte ich die Szene. Höchstens zehn Prozent beten, die anderen bleiben stehen, unterhalten sich, tanzen, machen, was sie wollen. Viele Menschen haben wieder ihre Kinder mitgebracht. Ein schönes Bild, das mir Mut macht.
Vor einigen Tagen wurde hier auch schon gebetet. Ein Muslimbruder, der nach der Schlacht des Kamels viel selbstbewusster war als früher, rief: »Seid mal ruhig!« Ich habe ihm gesagt: »Wenn ihr beten wollt, okay. Aber ich habe keine Lust dazu. Dieser Platz gehört allen, und du kannst mir keine Vorschriften machen.« Dann zog er wieder ab. Diese Haltung, dass hier jeder machen kann, was er will, solange er niemand anderen belästigt, scheint sich durchgesetzt zu haben. Auf die Muslimbrüder müssen wir trotzdem aufpassen. Sie sind eine gut organisierte Minderheit, aber sie dominieren nicht den Protest.
Vom Balkon, von dem ich den Platz beobachte, wird ein riesiges Transparent heruntergelassen. Darauf stehen, für alle sichtbar, unsere Forderungen: »Rücktritt Mubaraks«; »Auflösung beider Häuser des Parlaments«; »Ende des Kriegsrechts«; »Neuwahlen und eine neue Verfassung«; »Bildung einer nationalen Notstandsregierung aus allen politischen Kräften Ägyptens«; »Anklage gegen alle korrupten Politiker«; »Anklage gegen die Verantwortlichen der Übergriffe auf friedliche Demonstranten«.
Kurzatmig sind meine Landsleute nicht. Es war ein Nervenkrieg, in dem die Jugend voller Mut, Elan und Hoffnung gegen einen 83-jährigen Luftwaffengeneral antrat, der aus lauter Realitätsverlust an seinem Stuhl klammert. Die Zeit und die Welt waren auf der Seite der Jugend. Es konnte nicht anders sein. Am Ende musste Mubarak das Handtuch werfen und gehen. Geblieben sind seine Männer fast überall in den wichtigsten Einrichtungen des Landes. Geblieben sind die Mentalität und die soziale Realität, die ihn 30 Jahre gestützt haben. Mohamed, der Prophet des Islam, pflegte nach der Rückkehr aus dem Krieg seinen Anhängern zu sagen: Der kleine Kampf ist vorbei, jetzt beginnt der große Kampf, der Kampf von jedem von euch gegen sich selbst. Das Gleiche gilt für die Ägypter, die Tunesier und für alle Araber, die den Diktator vom Thron gejagt haben, aber ihn noch nicht aus ihrer Geisteshaltung entfernen konnten. Ich habe am 28. Januar lauter gejubelt als im Februar, weil die Ägypter am ersten Tag sich selbst besiegt und die eigene selbstverschuldete Mauer der Angst überwunden haben. Die Araber brauchen noch viele solcher Siege auf dem Weg in die Demokratie.
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Die Ursachen der Aufstände
I m Nachhinein sind wir alle klüger. Wie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, den kein Historiker und kein Politikwissenschaftler vorhersehen konnte, tobt auch jetzt eine Expertenschlacht über die
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