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Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens

Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens

Titel: Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hamed Abdel-Samad
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genauen Ursachen, die treibenden Kräfte und die Konsequenzen der Revolution. Was ich hier liefern kann, ist lediglich eine persönliche Einschätzung auf Basis dessen, was ich bislang wahrnehmen konnte.
    Aus meiner Sicht sind die Hauptursachen der Revolution dieselben, die zur Massenauswanderung und zum islamistischen Terrorismus geführt haben: das Erwachsenwerden einer neuen Generation, die Demütigungen, Ungerechtigkeiten und Frustration erleidet und die anders leben will als die Generationen ihrer großen Brüder und Väter. Die klassischen politischen und wirtschaftlichen Zutaten einer Revolte sind aber seit geraumer Zeit in allen arabischen Staaten zu beobachten.
    Warum kam also die Revolution zu diesem Zeitpunkt? Tatsache ist: Die arabische Bevölkerung ist heute nicht ärmer als vor 30 Jahren, und die Polizei ist nicht brutaler geworden. Im Gegenteil: Zum Zeitpunkt der Revolution hatten Ägypter, Tunesier und Syrer viel mehr Freiheiten als die Generation ihrer Väter. Sogar die Regierungszeitungen und offiziellen Medien waren vor der Revolution viel kritischer als noch wenige Jahre zuvor. In totalitären Diktaturen sind weder Terrorismus noch Revolutionen möglich. Zu Zeiten von Saddam Hussein wurde weder ein Terroranschlag im Irak verübt, noch waren Demonstrationen möglich. Erst nach der Aufweichung staatlicher Strukturen brachen die Konflikte auf, die die Diktatur niederhielt. Die entscheidende Frage für mich ist also nicht, welche Ursachen diese Revolte hatte, sondern warum sich eine schweigende Masse plötzlich in eine kritische Masse verwandelt. Denn diese Dynamik des Kritischwerdens wird Auswirkungen auf die Zukunft der arabischen Länder haben – und nicht nur positive. Eine kritische Masse, die sich untereinander nicht über neue Spielregeln einigen kann, steht sich selbst im Wege und verlangsamt möglicherweise den Demokratisierungsprozess.

    Die einzigen Menschen, die meines Wissens eine Revolution in Ägypten erwartet haben, waren zwei Künstler und ein Statistiker, wohlgemerkt keine Politikwissenschaftler. Der erste ist der 83-jährige Dichter und ewige Revolutionär Ahmed Fouad Negm, der für seine antiautoritären Gedichte mehrere Jahre unter Präsident Nasser und Präsident Sadat ins Gefängnis musste. Er wurde 1928 geboren, im gleichen Jahr wie Mubarak und Che Guevara. 1967 betrauerte er in seinen Gedichten die große Niederlage der arabischen Armeen im Krieg gegen Israel und den Tod seines Idols Che. Sein Leben lang sang er gegen Diktaturen und Unterdrücker.
    Ich lernte ihn persönlich kennen, als ich 2008 in Ägypten mein erstes Buch veröffentlichte, denn wir haben beide den gleichen Verleger. Ich sagte ihm: »Alles, was ich in Ägypten sehe, frustriert mich. Onkel Ahmed, sagen Sie mir bitte etwas, was mir Hoffnung gibt!« Er antwortete: »Deine Frustration ist die Hoffnung. Es dauert nicht mehr lange, glaub mir, ich habe Informationen, die sogar die CIA nicht hat: In Ägypten gibt es bald eine große Revolution.« Ich fragte, was ihn so sicher mache. Negm meinte, Ägypten habe eine junge Generation, wie es keine zuvor gegeben habe, flink und technisch begabt. Und diese jungen Menschen wüssten, was der Staat nicht weiß, weil sie im Internet lebten. Er wusste trotz seiner mehr als 80 Jahre, wovon er sprach, denn seine Tochter Nawara war eine der wichtigsten Bloggerinnen und Regimegegnerinnen Ägyptens. In einer Talkshow, wenige Tage vor der Revolution, sagte Negm, die besten Erfindungen des 20. Jahrhunderts seien Mobiltelefon und Viagra. Kommunikation ist eben fast alles.
    An der Uni in Kairo haben wir in den 1990er Jahren seine revolutionären Lieder in die Unterrichtsräume geschmuggelt. So scharf und so hemmungslos ist seine Sprache. Auch nach dem Ausbruch der Revolution in Ägypten haben wir auf dem Tahrir-Platz Negms Lieder gesungen.
    Besonders ein Gedicht kennt jeder: »Baue deine Paläste auf unserem Land weiter. Und das Gefängnis anstelle des Gartens. Lass deine Hunde in den Straßen wüten, und sperre uns in deinen Zellen ein. Und hindere uns daran zu schlafen, denn wir schliefen mehr als genug. Nun kennen wir die Ursache unserer Wunden. Nun sind wir uns begegnet, nun kennen wir uns gegenseitig, Arbeiter, Bauern und Studenten. Unsere Stunde hat geschlagen, unser Weg hat begonnen, und es gibt kein Zurück mehr, denn der Sieg ist uns näher als unsere Augen, der Sieg ist bereits in unseren Händen.«
    Was wie ein Lied klingt, das eigens für diese Revolution geschrieben

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