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Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens

Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens

Titel: Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hamed Abdel-Samad
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wurde, ist in Wirklichkeit ein altes Gedicht von Negm, das er für eine andere Revolution geschrieben hatte.
    Im Januar 1972 kam es in Kairo zu einer Studentenrevolte, von der heute selbst viele Ägypter nichts wissen. Aus dem Gefängnis schrieb Negm dieses Gedicht, um die jungen Menschen zu ermuntern, gegen die Alleinherrschaft von Präsident Sadat zu demonstrieren. Der Studentenprotest in der Vor-Facebook-Ära erreichte nur einige tausend Menschen. Dadurch waren Initiatoren und Organisatoren der Revolte leicht identifizierbar. Viele von ihnen wurden verhaftet, und der Aufstand wurde im Keim erstickt. Im Januar 2011 waren es Millionen Ägypter, die überall im Lande auf die Straße gingen. Dank Facebook, Youtube und Twitter war die Kommunikation nicht nur schneller, sondern auch effektiver. Es gab eine Gleichzeitigkeit von Bild und Ereignis. Aber das Internet war nicht nur ein Kommunikationsmittel für die jungen Ägypter, sondern auch ein Instrument der Befreiung vom offiziellen Wissen, das ihnen durch staatliche Medien und Schulen vermittelt wurde. Das Internet ist ein Fenster, das diesen jungen Menschen den Blick in die Welt eröffnete. Man könnte die Wirkung des Internets auf die arabische Welt mit der Wirkung des Buchdrucks auf Europa vergleichen. Der Druck hob das Monopol der Kirche auf Bibel und Texte allgemein auf und setzte eine Privatisierung des Wissens und somit eine Bildungsrevolution in Gang. Das Osmanische Reich lehnte die westliche Technik ab. Sie erreichte erst rund 300 Jahre nach ihrer Erfindung durch Gutenberg gegen den Widerstand der Kalligraphen, Kopisten und Religionsgelehrten Konstantinopel. Man hatte Angst, verfälschte Koranausgaben könnten in Umlauf kommen. Mit dem Feldzug Napoleons 1798 kam die erste Druckmaschine nach Ägypten. Religiöse Schriften blieben zunächst vom Druck ausgeschlossen. Diese 300 Jahre sind genau der Zeitraum, der die arabische Welt geistig und wissenschaftlich von Europa trennt. Gegen Gutenbergs Erfindung konnten sich Muslime drei Jahrhunderte lang wehren, doch die Erfindung von Zuckerberg wurde gleichzeitig im Westen und im Orient eingeführt. Der Westen hat Facebook erfunden, die Ägypter und die Tunesier haben diese Erfindung sofort umarmt und ihr Leben damit verändert. Keiner von ihnen hat das Privileg, sich über die Datenschutzlücken zu beschweren, denn ihr Verständnis von Freiheit ist viel existenzieller als das derer, die in einer Kultur der Bedenken sozialisiert wurden. Einige religiöse Gelehrte stehen zwar den sozialen Medien und dem Internet insgesamt skeptisch gegenüber, doch sie konnten die jungen Menschen diesmal nicht daran hindern, auf der Höhe der Zeit zu sein.

    Der zweite Künstler, der die Revolution vorausahnte, ist der ägyptische Filmemacher Khalid Youssef. In seinem 2008 gedrehten Film »hiyya fawda?« (»Ist es Chaos?«) erzählt er die Geschichte eines gottähnlichen Polizisten, der die Bewohner eines Viertels schikaniert, erpresst und demütigt, bis die Menschen eines Tages seine Willkür und Ungerechtigkeit nicht mehr ertragen. Sie marschieren zur Polizeistation, umzingeln sie und rufen gegen den übermächtigen Polizisten. Isoliert und fassungslos begeht der Tyrann Selbstmord.
    Aus diesem Polizisten sind 1,4 Millionen geworden, die das Regime Mubaraks schützen sollten, und aus dem kleinen Mob sind viele Millionen Ägypter geworden, die zwischen dem 25. Januar und dem 11. Februar auf die Straße gingen, um der Ungerechtigkeit der Polizei ein Ende zu bereiten. Der Regisseur dieses Films war einer der Demonstranten auf dem Tahrir-Platz und einer derjenigen, die die Menschenkette um das Ägyptische Museum am 28. Januar bildeten.

    Die französischen Statistiker Youssef Courbage und Emmanuel Todd ahnen in ihrem 2008 erschienenen Buch »Rendez-Vous des Civilisations«, dass der islamischen Welt massive Veränderungen bevorstehen. Aber erst der deutsche Übersetzer des Buches schaffte durch seine Wortwahl die Prophezeiung »Die unaufhaltsame Revolution. Wie die Werte der Moderne die islamische Welt verändern«. Die Autoren beschäftigen sich nicht mit dem Einfluss des Internets, der neuen Medien und der westlichen Konsumgüter auf junge Muslime, sondern analysieren lediglich die Geburtenraten innerhalb der islamischen Welt. Sie stellen fest, dass zwei Prozesse parallel ablaufen, die eine soziale Dynamik in den islamischen Gesellschaften hervorbringen: Die muslimischen Frauen sind heute gebildeter, und deshalb bringen sie weniger

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