Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens
Kinder zur Welt. Bekam eine muslimische Frau 1975 im Schnitt 6,8 Kinder, so waren es 2005 nur 3,7. In Tunesien soll die Geburtenrate sogar auf das Niveau von Frankreich abgesunken sein. Diese Alphabetisierung der Frauen sorgt für eine Störung der traditionellen Gleichgewichte und der Familienstrukturen. Da, wo Frauen lesen und schreiben können, geht die Geburtenrate unabhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung zurück.
Allerdings bringt der Geburtenrückgang für eine Kultur eine Identitätskrise oder eine Art kollektive Depression mit sich. Courbage und Todd stellen einen direkten Zusammenhang zwischen demographischer Entwicklung und Zusammenbruch der Religiosität her, und das nicht nur im Fall des Islam. So war der Glaubensverlust eine unmittelbare Folge des Geburtenrückgangs in Westeuropa, Russland und China. Im Falle des Islam ist der Rückgang der Religiosität nicht – wie es beim Katholizismus der Fall ist – die Voraussetzung für die demographische Modernisierung, sondern umgekehrt, denn der Islam ist prinzipiell nicht gegen Verhütung.
Den Vormarsch des Islamismus sehen Courbage und Todd als nur eine »augenblickliche Bewegung« und nicht als das Ende der islamischen Geschichte. Sie deuten den Fundamentalismus als vorübergehende Notwehr eines in »Bedrängnis geratenen Glaubens, der seine Verfechter auf den Plan ruft«. Was die beiden Statistiker außer Acht lassen, ist, dass der Fundamentalismus kein modernes Phänomen, sondern eine immer wiederkehrende Strategie der Muslime ist. Allerdings stimmt ihre Einschätzung, dass das Problem des heutigen Islam als eine Krise des Übergangs zu verstehen ist, denn auch Ende des 19. Jahrhunderts zeigte die Modernisierung der europäischen Gesellschaften ihre Schattenseiten. Mit der Alphabetisierung der Massen und der Schärfung ihres Bewusstseins gehen stets soziale Turbulenzen und massive psychische Störungen einher. Der französische Soziologe Emile Durkheim stellte im Jahr 1897 einen direkten Zusammenhang zwischen der steigenden Selbstmordrate und der zunehmenden Alphabetisierung der französischen Bevölkerung her. Auch im heutigen China und Indien kann der Zusammenhang zwischen Suizid und Wirtschaftswachstum beobachtet werden.
Fakt ist: Eine neue arabische Mittelschicht ist erwachsen geworden. Diese Mittelschicht ist nicht per se zufriedener als die Unterschicht. Im Gegenteil: Früher, als die meisten Menschen in den arabischen Staaten viel ärmer waren, war keine Unzufriedenheit mit den Lebensumständen spürbar. Man blickte sich um und sah, dass es den anderen genauso ging. Heute sind die Schichten auseinandergedriftet, und die Mittelschicht vergleicht sich nicht nur mit der Oberschicht im eigenen Land, sondern auch mit der im Westen.
Durch die Globalisierung und die Informationsrevolution beobachten die jungen Araber, wie demokratische Prozesse in anderen Ländern ablaufen. Einer der größten Impulse für die jungen Araber war die Wahl von Barack Obama zum ersten schwarzen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika. Obwohl viele von ihnen Amerika als Feind der islamischen Welt sehen, verfolgten sie die Wahl mit Begeisterung und fragten sich, weshalb es in den USA eine Demokratie gebe und in den islamischen Staaten nicht. Warum darf der Sohn eines kenianischen Einwanderers mit dem muslimischen Mittelnamen Hussein in Amerika sozial und politisch bis ins höchste Amt des Landes aufsteigen, während ein auch nur bescheidener Aufstieg der Mehrheit der Bevölkerung in der arabischen Welt vorenthalten wird? Warum durften die Amerikaner fünf Präsidenten wählen und abwählen – während der ägyptische Präsident über drei Jahrzehnte hinweg immer Husni Mubarak hieß? Diese kritische Haltung ist dem Internet und den internationalen Medien zu verdanken, denn weder in den Schulen und Universitäten noch in den staatlichen Medien wird über die Entwicklung der Demokratie im Westen berichtet. Man konzentriert sich auf die negativen, konfliktbeladenen Seiten des Westens. Er wird stur in Zusammenhang mit den Kreuzzügen, dem Kolonialismus und der Besatzung des Irak gebracht, um eine Mauer zwischen den jungen Arabern und den demokratischen Systemen zu errichten.
Da ich mit Menschen unterschiedlicher Nationalitäten und Religionen zumindest auf Facebook befreundet bin, kommt es nicht selten vor, dass Deutsche, Araber, Israelis, Türken, Amerikaner und Iraner sich dort heftig über meine Links und Diskussionsanstöße streiten. Es ist wunderbar,
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