Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens
mit dem Sturz des Herrschers aber nicht zu Ende. Mit anderen Frauenrechtlerinnen nahm sie einige Wochen später an einer Demonstration teil, um daran zu erinnern, dass die Anhänger des alten Regimes nach wie vor an den Schaltstellen saßen. Doch mitten in der Demonstration brachen mehrere wütende Männer in die Reihen der Frauen ein und beschimpften sie. »Geht zurück in eure Küchen, ihr Huren!« Sie verglichen die demonstrierenden Frauen mit der Frau des geflüchteten Diktators. »Was wollt ihr noch, ihr Hündinnen? Wollt ihr Männer werden?«, riefen sie und wurden dabei sogar handgreiflich.
Nicht nur religiöse Fanatiker hatten etwas dagegen, dass Frauen öffentlich demonstrieren, sondern normale Tunesier. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Ben Ali und auch seine Frau gesetzlich garantierten, schien einigen im nachrevolutionären Tunesien nicht mehr willkommen zu sein.
Das ägyptische Pendant zu Lina Mhenni ist Israa Abdel-Fattah, die ich im März in Kairo kennenlernte. Die junge Bloggerin ist die Mitgründerin der Bewegung »6. April«, die an der Seite von »Kahlid Said« auf Facebook für eine große Mobilisierung der Demonstranten während der Revolution, aber auch lange davor verantwortlich war. Israa war eine der ersten Ägypterinnen, die Ende 2007 ein Facebook-Account einrichteten, kurz nachdem das soziale Netzwerk in Ägypten bekannt geworden war. Schon vier Monate später gründete sie die Seite »6. April«, um ihre Solidarität mit den Textilarbeitern in der Stadt Mahala im westlichen Nildelta zu bekräftigen, die einen Streik an diesem Tag ausriefen.
Es ist kein Zufall, dass es sich um den gleichen Tag, den 6. April, handelte, an dem Mahatma Gandhi im Jahre 1930 seinen Marsch gegen das Salzmonopol der Engländer abgeschlossen hatte. Die Idee des gewaltlosen zivilen Ungehorsams kam also nicht von den Internetaktivisten, sondern von den einfachen Textilarbeitern in der Provinz, eine Entwicklung, die viele Oppositionelle und Intellektuelle in Kairo erst nach dem Ausbruch der Januar-Revolution nachvollziehen konnten. Israa nahm das Anliegen der Textilarbeiter auf und rief zu einem landesweiten Generalstreik auf. Ein Novum in der ägyptischen Geschichte. Obwohl sie die rund 77 000 Besucher ihrer Seite am Tag des geplanten Streiks aufrief, konnte Israa am 6. April 2008 ihren Augen kaum trauen: Die Straßen waren fast menschenleer. Nicht nur in Mahala, sondern überall in Ägypten befolgte man den Aufruf zum Streik. »Während ich die leeren Straßen fotografierte, kamen einige Polizisten und fragten mich, ob ich Israa heiße. Als ich bejahte, wurde ich sofort verhaftet.« Der Innenminister persönlich gab den Haftbefehl, wie sie nicht völlig unbescheiden bemerkte.
Als die Jasmin-Revolution Mitte Dezember 2010 in Tunesien ausbrach, verfolgte Israa die Ereignisse via Facebook und knüpfte Kontakte zu tunesischen Aufständischen. Am 25. Januar rief sie die Ägypter auf, nicht zu Hause zu bleiben, sondern in Scharen auf die Straße zu gehen. Sie wollte so viele wie möglich zum Tahrir-Platz mitnehmen, deshalb fing sie im Stadtteil Shubra an, in dem eine große koptische Gemeinde lebt. Sie wollte möglichst viele Kopten gewinnen, mit zum Tahrir-Platz zu kommen. Israa wusste, dass diese noch wütend waren wegen des Anschlags auf eine Kirche in Alexandria Anfang des Jahres. Die Mobilisierung glückte, und es gingen so viele Menschen auf die Straße wie noch nie in der Geschichte des Landes.
Heute sitzt Israa als Mitglied der Jugendunion der Revolution mit den uniformierten Herren der Armee zusammen und verhandelt über die Zukunft Ägyptens. »Wir stehen kurz davor, unser Vertrauen in das militärische Etablissement zu verlieren. Wir verstehen viele Entscheidungen des Militärrats nicht, wir wissen immer noch nicht genau, was sie mit dem Land vorhaben«, sagt sie. »Unser Problem als Jugend, die diese Revolution zustande brachte, ist aber, dass wir nicht in der Lage sind, das Land zu führen. Uns fehlen die Expertise und all die Tricks. Deshalb müssen wir mit ihnen reden.«
Israa weiß, die Lösung kann nicht so aussehen, dass alle Ministerämter nun von jungen Menschen bekleidet werden. Sie hält dies sogar für einen fatalen Fehler, denn viele lauern darauf, dass die jungen Menschen Fehler machen, damit ihre Gegner die Revolution als Irrtum abtun können, um eine neue Legitimation für die Installierung der alten Köpfe zu erhalten. »Unsere Aufgabe darf zu diesem Zeitpunkt nicht die
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