Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens
die Muslimbrüder dafür vom Militärrat erhielten, war die Beibehaltung des Artikels 2 in der Verfassung, der besagt, dass der Islam die Staatsreligion und die Scharia die Hauptquelle der Gesetzgebung sei, sowie die Umgehung des Artikels, der die Gründung einer politischen Partei auf religiöser Basis unterbindet. Vor den Wahllokalen standen Anhänger der Muslimbrüder, die gut organisiert sind und scheinbar über unerschöpfliche finanzielle Ressourcen verfügen, mit Lebensmitteln und Süßigkeiten als Geschenk für die bedürftigen Wähler und erinnerten sie daran, dass ein »Ja« zu Verfassung ein »Ja« zum Islam bedeute. Nach der Annahme der Verfassungsänderung kündigten die Muslimbrüder offiziell die Gründung ihrer neuen Partei an, die sie »Partei für Gerechtigkeit und Freiheit« nannten, in Anlehnung an die Partei des türkischen Premierministers Erdogan, »Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, AKP «. Ein Zeichen dafür, dass sich die Muslimbruderschaft, zumindest kurzfristig, vom Traum der Wiederherstellung des islamischen Kalifats gelöst hat und sich nun als eine zivile Partei mit Referenz zum Islam versteht. Dies zumindest kann man den Verlautbarungen fast aller Verantwortlichen der neuen Partei entnehmen, für die die moderne Türkei, aber auch der Politikertyp Erdogan große Vorbilder sind. Ob dies nur ein weiterer Schachzug der Bewegung ist oder der Beginn eines Transformationsprozesses, kann zu diesem Zeitpunkt niemand erkennen.
Tatsache ist, dass Erdogan nicht nur für seinen Reformkurs in der Türkei beliebt ist, sondern auch für seine kostenlosen kämpferischen Gesten im Nahostkonflikt. Erinnert sei hier an das Gespräch mit dem israelischen Präsidenten Shimon Perez auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos, das Erdogan abbrach. Er verließ den Raum unter Protest, weil er nicht genug Zeit bekam, um das israelische Vorgehen in Gaza zu kritisieren. Die Sendung eines türkischen Hilfsschiffs nach Gaza, angeblich, um die israelische Blockade zu brechen, galt für viele Araber nicht als ein kalkuliertes medial inszeniertes Manöver, sondern als mutige Aktion eines aufrichtigen Politikers. Erdogan wurde für die Ägypter endgültig zum Idol, weil er der erste Staatsmann war, der während der Proteste in Ägypten Mubarak aufforderte, auf sein Volk zu hören und auf die Macht zu verzichten.
Positiv bei dem Wahlprozess war allerdings, dass die Wahlbeteiligung am Referendum mit 50 Prozent hoch lag, zumindest verglichen mit den Wahlen der vergangenen Jahre, was von einer deutlichen Politisierung der Massen zeugt. Doch die Auswertung des Ergebnisses – mehr als 77 Prozent Zustimmung für die Verfassungsänderung, die keine ist – zeigt, dass freie Wahlen und Demokratie zwei Paar Stiefel sind.
Allerdings ist es falsch anzunehmen, dass alle, die zugestimmt hatten, Anhänger der Muslimbrüder sind oder dies wegen des Artikels 2 taten. Viele wollten in erster Linie erreichen, dass der Militärrat nicht lange an der Macht bleibt und rasche Neuwahlen ansetzt, was ohne verfassungsrechtlichen Rahmen nicht möglich ist. Außerdem wird eine völlig neue Verfassung für die Zeit nach den Wahlen angekündigt.
Die Muslimbrüder, die oft als Gefahr angesehen werden und die Mubarak immer als ein Argument gegenüber seinen westlichen Freunden benutzt hatte, um ihnen vorzugaukeln, dass er für Sicherheit und Stabilität garantiere, sind in Wirklichkeit kalkulierende Opportunisten. Sie verbündeten sich einst mit einem türkischen König gegen die eigene Bevölkerung, dann mit Nasser gegen diesen König, dann mit den Briten und Amerikanern gegen Nasser, dann mit Sadat gegen die linke Opposition, dann mit Mubarak gegen die gleiche Opposition und schließlich mit der Armee gegen die Kräfte der Revolution.
Manche sehen in ihnen die kommende politische Kraft Ägyptens. Ich halte sie jedoch für schwächer als je zuvor. Erstens stellen sie nicht mehr die einzig ernstzunehmende Opposition dar, sondern sind eine von vielen Bewegungen, die sich in den letzten Monaten auf der politischen Bühne Ägyptens zu Wort gemeldet haben, wie Kifaya und die nationale Gemeinschaft für Veränderung um den früheren Chef der Atomenergiebehörde Mohamed El-Baradei. Zweitens haben sie bei der Beseitigung des alten Regimes keine Verdienste erworben, da sie sich zu spät an den Demonstrationen beteiligten und bald neue Herren suchten, denen sie nun dienen. Ihre Verbindung zu Saudi-Arabien und ihre dubiosen Finanzquellen sind vielen
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