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Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens

Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens

Titel: Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hamed Abdel-Samad
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und von keiner Mehrheit später verändert werden dürfen. Die Muslimbrüder wollen im Gegenzug den Islam als Staatsreligion in der Verfassung verankern. Macht ohne Verantwortung also. Dies könnte die kurzfristige Strategie der Muslimbrüder sein: zunächst die Liberalen an die Macht bitten, aber die Fäden ziehen. Sollten die Liberalen Erfolg haben, werden die Muslimbrüder behaupten, sie seien ihre Partner gewesen. Sollten sie scheitern, könnten die Muslimbrüder mit deutlich geringeren Erwartungen in der Bevölkerung die Macht ergreifen.
    Einer der Reformisten innerhalb der Muslimbruderschaft ist Abdel-Moneim Abou el Fotouh, der sich an viele Vorgaben der Gruppe nicht hält. Er ist Generalsekretär der arabischen Ärztekammer und eine beliebte Figur bei der Jugend der Bewegung. Wie die meisten Führungskräfte der Muslimbrüder ist er kein Theologe. Berühmt wurde Abou el-Fotouh für seine legendäre Konfrontation mit Präsident Sadat in den 1970er Jahren. Sadat lud damals Studenten der Kairoer Universität zu einem Dialog in seine Sommerresidenz ein und versprach ein Vater-Sohn-Gespräch. Abou el-Fotouh, der damals Präsident der ägyptischen Studentenunion war, durchbrach die freundliche Stimmung des gehemmten Gesprächs und warf Sadat vor, keine Ahnung von Ägypten zu haben. »Sie umgeben sich mit lauter heuchlerischen Beratern, die Ihnen erzählen, was Sie hören wollen!«, schockierte der Student den Pharao, der diese Art Kritik nicht kannte. Sadat verlor seine Fassung und schimpfte cholerisch auf Abou el-Fotouh ein, der gelassen blieb und weiterhin Kritik übte.
    Im März dieses Jahres führte ich mit Abou el-Fotouh ein langes Interview in seinem Büro in Kairo über die Revolution, die Rolle der Muslimbrüder und seine mögliche Kandidatur für das Amt des Präsidenten, die die Führungsetage der Bewegung in Rage versetzt hatte:

    Hamed Abdel-Samad: Auf dem Tahrir-Platz fragte ich einen jungen Muslimbruder, wer für ihn ein wahrer Revolutionär ist. Er sagte Abdel-Moneim Abou el-Fotouh, weil er gegenüber Sadat die Wahrheit aussprach. Würden Sie sich als Revolutionär bezeichnen?
    Abou el-Fotouh: Ich bin einfach jemand, der stets sagt, was er denkt, mehr nicht.

    HAS
: Wäre die Diktatur von Mubarak ohne die Herrschaft von Sadat davor möglich gewesen?
    AE : Nein, die Zeit von Sadat war in der Tat die Basis für die Alleinherrschaft. Es war Sadat, der die Verfassung von 1971 verabschiedet hatte, die dem Präsidenten fast göttliche Befugnisse gab. Sadat war auch für die tiefe Kluft zwischen Arm und Reich in der Gesellschaft verantwortlich. Die Öffnung, die Sadat Richtung Westen vollzogen hatte, zog das Land in eine Krise.

    HAS
: Was haben Sie gegen die Öffnung?
    AE : Nichts. Ich habe etwas gegen die Art der Öffnung. Die Gesellschaft und die Infrastruktur des Landes waren nicht für die schnelle Privatisierung und Kapitalisierung bereit, deshalb profitierte nur eine kleine Schicht vom neuen Geld, während der Rest immer mehr in Armut versank. Das verhinderte die Entwicklung einer gesunden Volkswirtschaft. Kapitalismus ohne Demokratie und ohne soziale Politik schafft unfähige Gesellschaften.

    HAS
: Ist der Islam sozialistisch?
    AE : Der Islam ist auf jeden Fall sozial. Sozialistisch ist er nicht. Er hat nichts gegen Privatbesitz, auch nichts gegen Reichtum. Ich persönlich halte nichts vom Sozialismus, denn der Mensch liebt von Natur aus das Geld und will besitzen, und das ist gesund für die Wirtschaft. Aber ich bin gegen einen herzlosen Kapitalismus, wie er in Amerika herrscht. Ich bin eher für einen humanen Kapitalismus.

    HAS
: Waren Sie von Ihrem Glauben motiviert, als Sie Sadat Paroli boten? Oder anders ausgedrückt: Ist der Islam eine revolutionäre Religion oder eher eine Religion, die dem Herrscher hilft, zügellos zu herrschen?
    AE : Es kommt darauf an, wie man den Islam deutet. Der Prophet sagte: »Der beste Märtyrer ist jemand, der einen ungerechten Herrscher daran hindert, ungerecht zu bleiben.« Manche Gelehrte ziehen andere Zitate heran und meinen, man darf sich nicht gegen den Herrscher auflehnen, sonst kommt es zu Unruhen und Bürgerkriegen.

    HAS
: Warum haben Sie sich den Protesten schon am ersten Tag angeschlossen, obwohl die Muslimbrüder ihre Teilnahme abgesagt haben? Ist das nicht ein Verstoß gegen das Gebot des bedingungslosen Gehorsams?
    AE : Ich bin als Ägypter auf die Straße gegangen und nicht als Vertreter der Gruppe. Allerdings halte ich das Fernbleiben der Gruppe

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