Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens
Ägyptern mittlerweile sehr suspekt. Außerdem verharrten sie jahrzehntelang in der Opferrolle und beklagten ihre vermeintliche Verfolgung. Die Stimme des Protestes ist die einzige Stimme, die sie bislang kannten.
Nun, als legitime politische Partei und als Lieblinge der neuen Machthaber, haben sie ein Legitimationsproblem. Sie können also nicht als Gegner eines diktatorischen Regimes auftreten, sondern müssen einen wirtschaftlichen und politischen Plan binnen kurzer Zeit entwickeln, denn bei aller Emotionalität der Ägypter in Bezug auf ihre Religion steht außer Zweifel, dass diejenigen, die während der Demonstrationen ihr Leben riskierten, dies nicht für Artikel 2 der Verfassung taten, sondern um in Freiheit und Wohlstand zu leben. Da die Beibehaltung von Artikel 2, zumindest als symbolischer Artikel, nun als Konsens unter allen neuen und alten Parteien gilt und die Nationalpartei von Mubarak aufgelöst wurde, fehlt es den Muslimbrüdern im Wahlkampf an klassischen Feindbildern. Mit ihrer antiisraelischen Rhetorik können sie nicht punkten, da dies ein gemeinsamer Standpunkt in der ägyptischen Politik geworden ist. Auch gegen die Amerikaner können sie nicht wüten, da sie selbst zugegeben haben, dass sie schon zu Zeiten von Georg W. Bush mit der US -Regierung über die Zeit nach Mubarak gesprochen hatten. Außerdem würde eine antiamerikanische Rhetorik dem Militärrat nicht passen, der traditionell enge Verbindungen zur US -Regierung unterhält.
Die Abwesenheit eines äußeren Feindes führt somit zu heftigen Spaltungen innerhalb der Bewegung, die sich zunehmend mit sich selbst beschäftigen muss. Die Gruppe hatte immer unterschiedliche Flügel, die angesichts der gefühlten Verfolgung stes zusammenhielten: die missionarische Richtung, die sich mit Al-Azhar identifiziert, die salafitische konservative Richtung, die sich an Saudi-Arabien orientiert, die Dschihadisten, die den Kurs von Sayyed Qutb unterstützen und den bewaffneten Dschihad als eine Pflicht sehen, und die Reformisten, die für eine moderne zivile Gesellschaft plädieren. Nach dem Verschwinden des äußeren Feindes wird die innere Zerrissenheit der Gruppe bald noch deutlicher hervortreten. Auf jeden Fall wird es extrem schwierig sein, alle diese Flügel auf einen gemeinsamen politischen Nenner zu bringen – weshalb die Muslimbruderschaft vermutlich erneut die Rolle der Opposition vorziehen wird.
Die Muslimbrüder wissen, dass sie zwar viele Anhänger haben, streben aber anscheinend nicht an die Macht, zumindest nicht sofort, weil sie Angst vor den Erwartungen der Ägypter haben. Sie wissen, dass es kein Spaziergang sein wird, das Land zu regieren und den politischen und wirtschaftlichen Ansprüchen der jungen Ägypter gerecht zu werden. Sie wissen ebenso, dass sich nun die Kultur des Protests und des zivilen Ungehorsams und eine neue kritische Öffentlichkeit nach der Revolution etabliert haben, was das Regieren künftig schwieriger machen wird. Deshalb lehnte die Bewegung zwei Ministerposten in der Übergangsregierung ab, die ihnen vom Militärrat angeboten wurden. Auch entschloss sich ihre neugegründete »Partei der Gerechtigkeit und Freiheit«, zunächst nur in der Hälfte der Wahlkreise Kandidaten für die Parlamentswahlen aufzustellen, damit sie auf keinen Fall eine absolute Mehrheit erhalten können, sonst müsste sie die Probleme des Landes alleine lösen. Auch kündigte die Bewegung an, keinen eigenen Kandidaten für das Amt des Präsidenten aufzustellen. Sie weiß, dass ein Kandidat der Muslimbrüder zwar höchstens 40 Prozent der Stimmen bekommen könnte, aber bei einer Enthaltung ist jeder andere Kandidat auf ihre Unterstützung angewiesen. Auch im Parlament wollen die Muslimbrüder die Geert-Wilders-Taktik ausprobieren: nicht selbst regieren, aber den Königsmacher spielen, indem sie eine Minderheitsregierung anderer Parteien dulden. In einem unerklärlichen Schachzug ging die Partei der Muslimbrüderschaft eine Koalition mit der liberalen Wafd-Partei ein, vermutlich um den Eindruck zu vermitteln, dass sie den zivilen Staat unterstützt und keinen Alleingang plant. Sogar der Reformer El-Baradei begrüßte diese Koalition und hoffte, sich mit den Muslimbrüdern über zehn Prinzipien zu einigen, die in zehn Artikeln münden und der künftigen Verfassung vorangestellt werden sollten. Es handelt sich im Wesentlichen um Artikel, welche die individuellen Menschenrechte, die Gewaltenteilung und die soziale Gerechtigkeit festschreiben
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