Krieg und Frieden
wurde.
Nachdem Napoleon am anderen Tag die Armee überholt hatte, fuhr er im Wagen an den Niemen, um die Örtlichkeit des Übergangs zu besichtigen. Er trug eine polnische Uniform und fuhr ans Ufer.
Als er am jenseitigen Ufer Kosaken und die unabsehbare Ebene erblickte, gab er, für alle unerwartet und allen strategischen und diplomatischen Rücksichten entgegen, den Befehl zum Einmarsch, und am nächsten Morgen begann die Armee den Niemen zu überschreiten.
Frühmorgens am 12. Juni trat er aus dem Zelt, welches am Ufer des Niemen für ihn errichtet worden war, und blickte durch ein Fernrohr nach den Heersäulen, welche aus dem Wald von Wilkowischki hervorkamen und sich über die drei Brücken, die über den Niemen geschlagen waren, ergossen. Den Truppen war es bekannt, daß der Kaiser zugegen war, sie suchten ihn mit ihren Blicken, und als sie vor dem Zelt auf der Höhe seine Gestalt im Mantel und Hut erblickten, warfen sie die Mützen in die Höhe und riefen: »Vive l'empereur!« – »O, wenn der Kaiser selber da ist, dann geht's vorwärts! Jetzt gibt's einen lustigen Feldzug!« – »Sieh doch, da ist er! Hurra!« – »Und dort sind diese asiatischen Steppen! Wirklich ein sonderbares Land! Auf Wiedersehen. Beaugieu! Wenn ich Gouverneur von Indien bin, mache ich dich zum Minister von Kaschmir.« – »Hurra! Siehst du, da ist er! Ich habe ihn zweimal gesehen, den kleinen Korporal!« riefen die Stimmen alter und junger Soldaten von den verschiedensten Charakteren und Lebensstellungen. Auf allen diesen Gesichtern sah man nur Freude über den Anfang des langersehnten Feldzugs und Enthusiasmus für den Mann im grauen Rock, der auf dem Berge stand.
Am 13. Juni brachte man Napoleon ein kleines, arabisches Vollblutpferd. Er stieg auf und ritt im Galopp zu einer der Brücken über den Niemen, unaufhörlich von den enthusiastischen Zurufen der Soldaten begleitet, die er augenscheinlich nur ertrug, weil man den Soldaten nicht verbieten konnte, ihre Begeisterung für ihn auf diese Weise auszudrücken. Aber diese Zurufe waren ihm lästig und störend. Er ritt über die schwankende Schiffbrücke hinüber, wandte sich scharf zur Linken und ritt im Galopp in der Richtung nach Kowno weiter, wohin seine glückstrahlenden, reitenden Gardejäger ihm vorausgaloppierten. Als er an die Wilja kam, hielt er neben einem polnischen Ulanenregiment an, das am Ufer stand.
»Vivat!« schrien die Polen ebenso enthusiastisch. Ihre Reihen lösten sich auf und sie drängten einander, um ihn zu sehen. Napoleon stieg vom Pferde und setzte sich auf einen Balken, der am Ufer lag. Auf ein stummes Zeichen reichte man ihm das Fernrohr. Er legte es auf die Schulter eines herbeigeeilten Pagen und blickte nach dem anderen Ufer hinüber. Dann betrachtete er lachend die Landkarte, welche auf dem Balken ausgebreitet war. Ohne den Kopf zu erheben, sagte er etwas, und zwei seiner Adjutanten galoppierten zu den polnischen Ulanen.
»Was hat er gesagt?« fragten die polnischen Ulanen, als einer der Adjutanten sie erreichte.
Sie brachten den Befehl, die Furt aufzusuchen und auf das jenseitige Ufer überzusetzen. Der polnische Ulanenoberst, ein schöner, alter Mann, blickte errötend vor Aufregung den Adjutanten an und fragte, ob es ihm erlaubt sein werde, mit seinen Ulanen den Fluß zu durchschwimmen, ohne die Furt aufzusuchen. Wie ein Knabe, der um die Erlaubnis bittet, ein Pferd zu besteigen, erwartete er gespannt die Erlaubnis, den Fluß unter den Augen des Kaisers zu durchschwimmen. Der Adjutant sagte, wahrscheinlich werde der Kaiser über diesen Eifer nicht unzufrieden sein.
Kaum hatte der Adjutant dies gesagt, als der alte Offizier mit strahlenden Augen den Säbel in die Höhe hob und rief: »Vivat!« und den Ulanen befahl, ihm zu folgen. Er gab dem Pferde die Sporen und ritt im Galopp an den Fluß. Er trieb sein Pferd an und ritt in den reißenden Strom. Die Ulanenschwadron galoppierte ihm nach. Es war kalt in der Mitte des Stroms. Die Ulanen hingen sich aneinander, einige Pferde sanken ein und die Leute bemühten sich, nach dem anderen Ufer zu schwimmen, und obgleich eine halbe Werst weiter ein Übergang war, waren sie doch stolz darauf, über diesen Fluß zu schwimmen oder zu ertrinken unter den Augen des Mannes, der auf dem Balken saß und nicht einmal nach ihnen sah, was sie machten. Der zurückkehrende Adjutant wählte einen passenden Augenblick, um den Kaiser auf die Hingebung der Polen für seine Person aufmerksam zu machen. Der kleine Mann im
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