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Krieg und Frieden

Krieg und Frieden

Titel: Krieg und Frieden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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lassen. Zum erstenmal in ihrem Leben erlaubte sie sich, ungehorsam zu sein. Ihre Weigerung, abzureisen, hatte eine sehr heftige Szene zur Folge. Der alte Fürst überhäufte sie mit den schrecklichsten Vorwürfen. Sie habe sein Dasein vergiftet, ihn mit seinem Sohn entzweit und ihn abscheulich verleumdet, schrie er, sie solle sein Zimmer verlassen und machen, was sie wolle, er wolle sie nicht mehr kennen, und sie solle sich vor seinen Augen nicht wieder zeigen. Die Fürstin Marie war froh, daß sie nicht mit Gewalt in einen Wagen gesetzt und fortgefahren wurde, und sah darin einen unverkennbaren Beweis dafür, daß ihr Entschluß, bei ihm zu bleiben, ihn sehr befriedigte. Am Tage nach der Abreise seines Enkels zog der alte Fürst seine große Uniform an und machte sich auf den Weg, den Obergeneral aufzusuchen. Sein Wagen war vorgefahren. Marie bemerkte, wie er, ganz mit Orden bedeckt, nach einer Allee des Gartens ging, um dort die Bauern und die Dienerschaft, die er bewaffnet hatte, zu besichtigen. An ihrem Fenster sitzend, hörte sie gespannt auf die Befehle, die er gab, als plötzlich einige Leute mit bestürzten Gesichtern auf das Haus zugelaufen kamen. Sie eilte sogleich hinaus in die Allee und erblickte einen Haufen von Bauern und inmitten derselben den alten Fürsten, welcher, unterstützt von einigen Leuten, sich mühsam nach dem Hause schleppte. Als sie näher kam, war sie tief ergriffen. Seine harte, entschlossene Miene hatte einen Ausdruck von Kraftlosigkeit und Unterwürfigkeit angenommen. Beim Anblick seiner Tochter bewegte er seine Lippen, aus welchen rauhe, unverständliche Töne hervorkamen. Man trug ihn in sein Kabinett und legte ihn auf den Diwan.
    Der Arzt, welcher aus der Stadt geholt wurde, pflegte ihn die ganze Nacht und erklärte, die rechte Seite sei durch einen Schlag gelähmt worden. Der Aufenthalt in Lysy Gory wurde mit jedem Augenblick gefährlicher, deshalb ließ Marie den Kranken nach Bogutscharowo bringen und schickte ihren Neffen nach Moskau unter der Obhut von Desalles.
    Der alte Fürst brachte drei Wochen im Hause seines Sohnes zu, immer in demselben Zustand. Er lag regungslos in halber Bewußtlosigkeit da und murmelte zuweilen unverständliche Worte. Es war nicht zu verstehen, ob er von Familienangelegenheiten oder von politischen Ereignissen sprechen wollte.
    Der Arzt sagte, diese Aufregung habe nichts zu bedeuten und rühre von physischen Ursachen her, aber die Fürstin Marie war vom Gegenteil überzeugt, und die Unruhe, die der Kranke zeigte, wenn sie zugegen war, bestärkte sie darin.
    Es war keine Hoffnung auf Genesung mehr, und es war unmöglich, ihn weiterzubringen, da man befürchtete, daß er unterwegs sterben würde.
    »Wäre das Ende nicht besser als dieser Zustand?« sagte sich zuweilen Marie. Zu ihrem Schrecken konnte sie sich nicht verhehlen, daß alle ihre Hoffnungen, die sie seit so vielen Jahren vergessen hatte, plötzlich wieder erwachten, daß sie an ein unabhängiges Leben, voll neuer Freude, frei von dem Joch der väterlichen Tyrannei, dachte. Die Möglichkeit, zu lieben und endlich das eheliche Glück zu genießen, schwebte ihr beständig in ihrer Einbildungskraft vor wie Dämonen der Versuchung. Dann war das Gebet ihr einziger Trost. Jetzt war der Aufenthalt in Bogutscharowo auch nicht mehr ungefährlich, die Franzosen näherten sich, und ein benachbartes Gut war bereits von Plünderern heimgesucht worden. Der Arzt bestand darauf, den Kranken fortzubringen, der Adelsmarschall schickte einen seiner Leute, um die Fürstin Marie zu schneller Abreise zu mahnen. Auch der Landpolizeimeister kam persönlich, um ihr mitzuteilen, daß die französischen Truppen schon auf vierzig Werst nahegekommen seien. In den Dörfern seien schon feindliche Proklamationen verbreitet worden, und er könne für nichts stehen, wenn sie nicht sofort abreisen würde.
    Sie entschloß sich endlich, am 15. September abzureisen. Die Vorbereitungen hatten sie den ganzen 14. beschäftigt, und sie verbrachte die folgende Nacht, wie gewöhnlich, ohne sich zu entkleiden, in einem Zimmer neben dem ihres Vaters. Sie konnte nicht schlafen und näherte sich immer wieder der Tür, um zu horchen. Sie hörte, wie er stöhnte, während Tichon und der Arzt seine Lage veränderten. Noch nie zuvor hatte sie so tiefes Mitleid empfunden. Eine Veränderung war in ihr vorgegangen, jetzt fürchtete sie, ihn zu verlieren, und erinnerte sich an zahlreiche Beweise seiner Zuneigung für sie während der

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