Krieg und Frieden
Gedränge entflohen war. Peter sah, wie ein Franzose einen russischen Soldaten schlug, weil er zu weit vom Wege abgewichen war, und hörte, wie der Kapitän, sein Freund, einem Unteroffizier mit dem Kriegsgericht drohte wegen der Flucht des Russen. Der Unteroffizier entschuldigte sich, der Soldat sei krank gewesen und habe nicht gehen können, worauf der Offizier sagte, es sei befohlen, diejenigen zu erschießen, die zurückbleiben. Bald verstummte das Knistern der Lagerfeuer und das unendliche Stimmengewirr, und in dem ungeheuren Biwak wurde es still. Die roten Lagerfeuer brannten herab, doch am hellen Himmel stand der Vollmond und erleuchtete die unabsehbaren Wälder und Felder. Peter blickte zum Himmel auf, zu den funkelnden Sternen.
»Und alles das ist mein, und alles das ist in mir, und alles das bin ich«, dachte Peter, »und alles das haben sie gefangengenommen und in der Baracke, die mit Brettern eingezäunt ist, eingeschlossen.« Er lachte und legte sich bei seinen Genossen nieder, um zu schlafen.
229
In den ersten Tagen des Oktober kam bei Kutusow noch ein Parlamentär an mit einem Brief von Napoleon, welcher Friedensvorschläge enthielt und trügischerweise aus Moskau datiert war, während Napoleon schon nicht weit von Kutusow auf der alten Kalugaschen Straße war. Kutusow antwortete auf diesen Brief ebenso wie auf den ersten. Er sagte, von Frieden könne keine Rede sein. Bald darauf traf von dem Streifkorps von Dolochow bei Tarutino eine Meldung ein, daß in Fominskoi sich Truppen gezeigt hätten, die aus der Division Broussier bestehen. Diese Division sei vereinzelt und könne leicht vernichtet werden. Die Generale kamen zu Kutusow und sprachen ihre Meinung aus, auf den Vorschlag Dolochows einzugehen, aber Kutusow hielt dies nicht für nötig. Daraus erfolgte ein Mittelding, es wurde nach Fominskoi eine kleine Abteilung unter Dolochow gesandt, welche Broussier angreifen sollte, aber kaum hatte Dolochow die Hälfte des Weges bis Fominskoi zurückgelegt, als die französische Armee sich ganz unerwarteterweise nach links wandte, nach der neuen Kalugaschen Straße und Fominskoi besetzte, wo früher nur Broussier gestanden hatte. Ein gefangener französischer Gardist wurde eingebracht, welcher aussagte, daß die Truppen in Fominskoi die Avantgarde der ganzen großen Armee sei, daß auch Napoleon dort wäre, und daß die Armee schon vor fünf Tagen aus Moskau abmarschiert sei. An demselben Abend berichtete auch ein Bauer, daß er den Einmarsch großer Truppenmassen in die Stadt gesehen habe, und Kosaken von der Abteilung Dolochows meldeten, daß sie die französische Garde im Anmarsch gesehen haben. Aus allen diesen Gerüchten ergab sich klar, daß dort, wo nur eine Division gestanden hatte, jetzt die ganze französische Armee stand, welche in einer ganz unerwarteten Richtung aus Moskau abmarschiert war. Dolochow wollte nichts unternehmen, ohne zuvor Meldung gemacht zu haben, und sandte einen Offizier, Bolchowitinow, um Mitternacht an den Oberkommandierenden ab.
230
Es war eine dunkle, warme Herbstnacht, es regnete schon den vierten Tag.
»Wo ist der General du jour? Schnell!« sagte Bolchowitinow, als er vor einer Hütte vom Pferde stieg, an welcher angeschrieben stand: »Generalstab.« Wie alle alten Leute schlief Kutusow wenig in der Nacht. Bei Tage schlummerte er oft plötzlich ein, jetzt aber lag er unausgekleidet auf seinem Bett in tiefem Nachdenken.
»Sie müßten doch begreifen, daß wir nur verlieren können, wenn wir angreifend verfahren. Geduld und Zeit, das sind meine Kriegswaffen!« dachte Kutusow. »Immer sprechen sie von klugen Manövern und Angriffen. Wozu das? Nun, sie wollen sich nur auszeichnen, als ob es ein Vergnügen wäre, sich zu schlagen! Sie sind wie die Kinder, von denen man nicht auf vernünftige Weise herausbringen kann, wie die Sache war, weil sie alle nur beweisen wollen, wie sie sich zu schlagen verstehen. Aber darum handelt es sich jetzt nicht. Und was für künstliche Manöver sie mir immer vorschlagen! Sie glauben, wenn sie zwei oder drei Möglichkeiten überlegt haben, so haben sie alles überlegt, und doch sind die möglichen Zufälle unzählig.«
Er überdachte alle möglichen Bewegungen der französischen Armee. Er dachte an die Möglichkeit, daß Napoleon mit einem Teil seines Heeres sich nach Petersburg wenden werde, oder daß er in Moskau bleiben werde, um ihn, Kutusow, zu erwarten. Aber was er nicht vorhersehen konnte, war eben das, was geschah, jenes
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