Krieg und Frieden
stellte er sich selbst die Fragen: »Was dann? Was werde ich machen?« Doch sogleich antwortete er sich selbst darauf: »Nichts, ich werde leben! Ach, wie wonnig!« Das, was ihn früher quälte und was er beständig suchte, der Zweck des Lebens, existierte jetzt nicht mehr für ihn, weil er jetzt Glauben hatte, nicht den Glauben an gewisse Regeln oder Worte oder Gedanken, sondern den Glauben an einen lebendigen Gott. Früher hatte er das Große, Unerreichbare und Unendliche in nichts zu finden vermocht, er hatte nur gefühlt, daß es irgendwo sein müsse, er hatte es gesucht in allem, was ihn umgab, und nur Begrenztes, Kleinliches, Sinnloses gefunden. Jetzt aber hatte er gelernt, das Große, Ewige und Unendliche in allem zu sehen, und das machte in ruhig und glücklich. Die schreckliche Frage »warum?«, die früher alle seine geistigen Bauwerke zerstörte, existierte nicht mehr für ihn, jetzt hatte er die einfache Antwort auf diese Frage: »Deshalb, weil es einen Gott gibt, ohne dessen Willen kein Haar vom Haupte des Menschen fällt.«
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Im seinem äußeren Wesen hatte sich Peter wenig verändert, er war auch noch ebenso zerstreut und schien noch immer nicht mit dem, was vor seinen Augen lag, beschäftigt zu sein, sondern mit etwas Innerlichem. Der Unterschied zwischen seinem früheren und jetzigen Zustand aber bestand darin, daß er früher viel sprach und bisweilen mit Heftigkeit, aber wenig hörte, jetzt aber wenig gesprächig war und so zuzuhören verstand, daß die Menschen ihm gern ihre innersten Geheimnisse mitteilten.
Die Fürstin, die Peter nie geliebt hatte und sogar ein feindliches Gefühl gegen ihn hegte, seit sie nach dem Tod des alten Grafen sich abhängig fühlte, war nach Orel gegangen, um Peter zu beweisen, daß sie ungeachtet seiner Undankbarkeit es für ihre Pflicht halte, nach ihm zu sehen, und fühlte bald mit Verdruß und Verwunderung, daß sie ihn liebe. Peter hatte die Gunst der Fürstin durchaus nicht gesucht und sah sie nur mit neugieriger Verwunderung an. Der listigste Mensch hätte sich nicht schlauer in das Zutrauen der Fürstin einschleichen können, aber die ganze Schlauheit Peters bestand nur darin, daß er sein Vergnügen suchte, indem er in der verbitterten, trockenen und auf ihre Art stolzen Fürstin menschliche Gefühle hervorrief.
»Ja, er ist ein sehr, sehr guter Mensch«, sagte die Fürstin zu sich selbst, »wenn er sich unter dem Einfluß guter Menschen befindet, solcher Menschen wie ich!«
Die Veränderung, die in Peter vorgegangen war, wurde auch seiner Umgebung, seinen Dienern und dem Arzt bemerkbar, der Peter behandelte. Dieser besuchte ihn jeden Tag, und obgleich er nach Art der Ärzte sich das Ansehen eines vielbeschäftigten Menschen gab, dessen Minuten kostbar sind für die leidende Menschheit, blieb er oft stundenlang bei Peter sitzen und erzählte ihm Anekdoten oder teilte ihm seine Beobachtungen über das Wesen der Kranken im allgemeinen und der Damen im besonderen mit.
In Orel lebten einige gefangene Offiziere, und der Doktor brachte einen von ihnen, einen jungen italienischen Offizier, zu Peter. Der Italiener schien nur dann glücklich zu sein, wenn er zu Peter kommen konnte, um von seiner Vergangenheit, von seinem häuslichen Leben, von seiner Liebe zu erzählen, sowie von seinem Abscheu gegen die Franzosen und besonders gegen Napoleon. Auch ein alter Bekannter, der Freimaurer Graf Willarsky, kam zu ihm, derselbe, der ihn 1807 in die Loge eingeführt hatte. Willarsky hatte eine reiche Russin geheiratet, die große Güter bei Orlow besaß. Als Willarsky erfuhr, daß Besuchow in Orel sei, kam er zu ihm. Willarsky langweilte sich in Orel und war glücklich, einen Menschen zu finden, der demselben Kreise angehörte und, wie er glaubte, dieselben Interessen hatte. Aber zu seiner Verwunderung kam er bald zu der Ansicht, daß Peter sehr zurückgeblieben und in Apathie und Egoismus versunken sei.
Aber dennoch war Willarsky jeden Tag bei Peter. Während Peter ihn sah und anhörte, erschien ihm der Gedanke seltsam und unwahrscheinlich, daß er selbst noch vor kurzem ein ebensolcher Mensch gewesen sei wie dieser.
In seinen Beziehungen zu Willarsky, zur Fürstin, zu dem Arzt und zu allen Menschen mit denen er jetzt in Berührung kam, war jetzt ein neuer Zug an Peter bemerklich, der ihm die Zuneigung aller gewann. Das war das Zugeständnis der Möglichkeit für jeden Menschen, auf seine Weise zu denken, zu fühlen und die Dinge anzusehen, und das Eingeständnis der
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