Krieg und Frieden
mit der Tür und ging mit energischen Schritten an den Diwan, betrachtete den Papa, erhob sich auf die Zehenspitzen und küßte seine unter seinem Kopfe liegende Hand. Nikolai wandte sich um mit einem gerührten Lächeln.
»Natalie! Natalie!« rief die Gräfin Marie erschreckt von der Tür her. »Papa will schlafen!«
»Nein, Mama, er will nicht schlafen«, erwiderte die kleine Natalie mit Überzeugung, »er lacht ja!«
Nikolai richtete sich auf und nahm die Kleine auf den Arm. »Komm herein, Marie!« sagte er zu seiner Frau.
Sie trat ins Zimmer und setzte sich neben ihn. »Ich habe nicht gesehen, daß er mir nachlief«, sagte sie schüchtern.
Nikolai trug auf dem einen Arm die Kleine, und als er die schuldbewußte Miene seiner Frau bemerkte, umarmte er sie mit dem anderen Arm und küßte sie auf die Haare. »Kann ich Mama küssen?« fragte er Natalie. Sie lachte. »Noch einmal!« sagte sie und deutete gebieterisch nach der Stelle, wo Nikolai sie geküßt hatte.
»Ich weiß nicht, warum du glaubst, ich sei schlechter Laune«, sagte Nikolai als Antwort auf die Frage, die, wie er wußte, ihr auf dem Herzen lag.
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie unglücklich und einsam ich mich fühle, wenn du so bist.«
»Marie, höre auf! Unsinn! Schämst du dich nicht?« sagte er vergnügt.
»Mir scheint immer, du könntest mich nicht lieben, weil ich so häßlich bin ... Und immer ... Und jetzt ... In dieser .«
»Ach, wie lächerlich du bist! Nicht die Schönheit macht liebenswürdig, aber die Liebenswürdigkeit macht schön. Das sind andere, die man wegen ihrer Schönheit liebt. Aber liebt man denn seine Frau? Ich nicht. Aber ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll, wenn du nicht da bist, oder wenn, wie jetzt, eine Katze zwischen uns durchläuft, so bin ich zu nichts mehr fähig. Nun, sieh doch, liebe ich etwa meinen Finger? Nein, gar nicht, aber versuche einmal, ihn abzuschneiden!«
»Nein, so ist es nicht, aber ich verstehe dich. Du bist mir also nicht böse!« »Schrecklich böse !« sagte er lachend. Dann stand er auf, strich ihre Haare zurück und ging im Zimmer auf und ab.
»Weißt du, was ich gedacht habe?« begann er. Jetzt nach der Versöhnung begann er sogleich in ihrer Gegenwart laut zu denken. Er fragte nicht danach, ob sie bereit sei, ihm zuzuhören, das war ihm ganz gleichgültig. Ein Gedanke war ihm gekommen, also wahrscheinlich auch ihr, und er erzählte ihr, er habe die Absicht, Peter zu überreden, bis zum Frühjahr bei ihnen zu bleiben.
Marie hörte ihn an, machte eine Bemerkung und begann dann ihrerseits laut zu denken. Ihre Gedanken waren bei den Kindern.
»Wie das Weibliche schon in ihr sichtbar ist!« sagte sie französisch, auf die kleine Natalie deutend. »Ihr werft uns Frauen immer vor, wir seien nicht logisch, aber siehst du, so ist unsere Logik: Ich sage: »Papa will schlafen«, und sie erwidert: »Nein, er lacht!« Und sie hat recht!« sagte die Gräfin Marie mit glücklichem Lächeln.
»Ja, ja!« Und Nikolai hob die Kleine hoch auf, setzte sie auf seine Schulter, ergriff ihre Beinchen und ging mit ihr im Zimmer auf und ab. Vater und Tochter hatten gleich glückliche Gesichter.
»Du liebst sie zu sehr!« flüsterte die Mutter.
»Was soll ich machen? Ich gebe mir Mühe, es nicht merken zu lassen ...« Draußen hörte man Geräusch und Schritte.
»Jemand ist angekommen.«
»Ich bin überzeugt, daß es Peter ist, ich werde mich erkundigen!« rief Marie und verließ das Zimmer. Nikolai galoppierte mit der Kleinen durchs Zimmer.
»Er ist da, Nikolai!« rief nach wenigen Augenblicken Gräfin Marie zurückkehrend. »Jetzt lebt unsere Natalie wieder auf! Du hättest ihr Entzücken sehen sollen, wie sie ihn sogleich dafür ausschalt, daß er so lange ausgeblieben ist! Nun, komm schnell! Komm!«
Nikolai ging, mit der Kleinen an der Hand, hinaus, Gräfin Marie aber blieb noch im Zimmer zurück.
»Niemals hätte ich geglaubt«, flüsterte sie, »daß man so glücklich sein kann!« Ihr Gesicht strahlte, zugleich aber seufzte sie auch, und ein stiller Kummer lag in ihrem tiefen Blick, als ob es außer dem Glück, das sie empfand, noch ein anderes, in diesem Leben unerreichbares Glück gäbe, an das sie sich unwillkürlich in diesem Augenblick erinnerte.
6
Natalie hatte im Frühjahr 1813 geheiratet, und jetzt, im Jahre 1820, hatte sie schon drei Töchter und einen Sohn, den sie jetzt selbst nährte. Ihre Gestalt war sehr korpulent geworden, so daß man in dieser gewichtigen Dame kaum die
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