Krieg – Wozu er gut ist
Jefferson mitsamt seinen republikanischen Gesinnungsgenossen wehrte sich hartnäckig gegen jede Form von zentralisierter Macht, gegen Steuern, stehende Heere und all die anderen Insignien eines Leviathans.
Für manche Amerikaner bedeutete all das, dass sie aus ganz anderem Holz geschnitzt seien als die verderbten Europäer. Die Tatsache aber, dass sich die Vereinigten Staaten jedes Mal, wenn sie Gefahr witterten – beispielsweise 1790, als sich die Angst vor einer französischen Invasion breitmachte – wieder auf den Leviathan besannen, lässt eher vermuten, dass der eigentliche Unterschied etwas mit der politischen Geografie zu tun hatte. Die Vereinigten Staaten hatten nach 1781 nur selten existentielle Bedrohungen zu fürchten. Deshalb konnten sie als militärischer Zwerg bestehen undsich sogar Diskussionen darüber leisten, ob ein Leviathan überhaupt vonnöten sei. Europäische Staaten hingegen hatten es auf allen Seiten mit räuberischen Nachbarn zu tun. Die kleinste Schwäche konnte sich als tödlich erweisen, und Republiken hatten genauso hart um ihr Überleben zu kämpfen wie Monarchien.
Auf beiden Kontinenten war das Aufkommen von leidenschaftlichem Patriotismus lediglich Begleiterscheinung der größer werdenden Einzugsbereiche zugangsoffener Gesellschaftsordnungen. Einen großen Unterschied zwischen dem europäischen Volkskrieg und dem amerikanischen gab es jedoch: Napoleons Entdeckung, dass dieser sich vom Republikanismus entkoppeln ließ. Ein leiser Staatsstreich machte ihn zum Monarchen, und 1804 krönte er sich selbst zum Kaiser. Von nun an kämpften Frankreichs Massen für das uralte Anliegen imperialer Expansion. George Washington hatte geglaubt, dass Handel den Krieg überflüssig machen werde, Napoleon nie. Ja, nach 1806 versuchte er sogar, das Gegenteil zu beweisen und den Handel mit Mitteln des Krieges zu dirigieren, indem er geschlagene Gegner zwang, seinem Herrschaftsbereich beizutreten und sich an der Kontinentalsperre zu beteiligen – einem Handelsembargo gegen englische Industrieprodukte auf europäischen Märkten, das die Briten in den Ruin treiben sollte.
Es hat fast zehn Kriegsjahre und ein paar der größten Schlachten der europäischen Geschichte gekostet (1813, in der Völkerschlacht bei Leipzig, fochten 600 000 Mann), um zu zeigen, dass Napoleon unrecht hatte. Die einzige Möglichkeit, den Handel durch Krieg lahmzulegen, hätte darin bestanden, dass französische Flotten die Kontrolle über die Seewege erlangt und Großbritanniens Handel unterbunden hätten. Aber da dieser Handel so profitabel war, konnten die Engländer immer neue und immer bessere Schiffe bauen und mehr und bessere Seeleute ausbilden als die Franzosen. Napoleons Manöver auf See brachten ihm nichts, und weil Englands Welthandel überlebte, kamen die Europäer rasch zu dem Schluss, dass sie den britischen Handel mehr brauchten als Großbritannien sie. Eine Nation nach der anderen fand Mittel und Wege, die Kontinentalsperre zu umgehen, und handelte auf Englands Märkten weiter.
Napoleons Ringen um die Aufrechterhaltung seines Systems katapultierte ihn über den Kulminationspunkt des Volkskrieges hinaus. Nach 1799 hatte er zeigen können, dass sich ein Volkskrieg dazu vereinnahmen ließ, ihn zum Kaiser zu krönen, aber die etablierten Herrscher Europas hatten inzwischen herausgefunden, wie sie ihn mit den gleichen Mitteln stürzenkonnten. Als Napoleon 1808 Spanien besetzte, um es zur Aufrechterhaltung der Kontinentalsperre zu zwingen, geriet er in den Sumpf eines Volksaufstandes (Abbildung 4.12), verstärkt durch britische Berufssoldaten, der Hunderttausende seiner Soldaten band. Noch schlimmer kam es, als er, immer noch bestrebt, die Kontinentalsperre aufrechtzuerhalten, 1812 nach Russland einmarschierte.
Dieser Fehler veranlasste übrigens Clausewitz zu seiner Theorie des Kulminationspunktes: In seinem Unmut darüber, dass sein Heimatland Preußen sich Frankreich ergeben hatte, meldete er sich 1812 freiwillig zur russischen Armee, und dabei wurde ihm klar, dass seine eigenen antifranzösischen Ressentiments nur Teil einer großen allgemeinen Reaktion waren, die Napoleon selbst losgetreten hatte, weil er zu weit gegangen war.
Auf die Ebbe folgte die Flut. Nur zwei Jahre, nachdem Napoleon Moskau eingenommen hatte, marschierten die Russen zusammen mit Preußen und Österreich in Paris ein, und Napoleon wurde abgesetzt. Aber die Gezeiten änderten sich noch einmal, und für hundert dramatische Tage kehrte
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