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Krieg – Wozu er gut ist

Krieg – Wozu er gut ist

Titel: Krieg – Wozu er gut ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Morris
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»Empire« werde ihr nicht gerecht. Ihrer Ansicht nach sollten wir uns für das 19. Jahrhundert eher eine Weltordnung vorstellen, in der die formalen Reiche, die von europäischen Hauptstädten aus herrschten, nur einen – und nicht zwangsläufig den wichtigsten – Teil eines umfassenderen Netzwerks bildeten, das nahezu die ganze Erde umspannte.
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    Abbildung 4.14Das Ausmaß des Sieges
    Um 1900 hatten die Europäer 84 Prozent der Erdoberfläche erobert (hellgrau, das British Empire dunkelgrau).

    Das entsprach zwar nicht ganz Adam Smith’ Vision einer Welt, die von Eigeninteresse zusammengehalten wurde, aber um 1850 arbeiteten die unsichtbare Hand und die unsichtbare Faust auf völlig neuartige Weise zusammen. Ohne Zweifel war Großbritannien das Zentrum dieses Systems, auch wenn es – im Gegensatz zu früheren Imperialisten – nie in der Lage war, die Welt mit Gewalt zu beherrschen. Die zentralistische Führung, die London durchsetzte, beruhte auf Interaktionen innerhalb des übrigen Weltsystems, die für dessen unabhängige Teile Anreize schufen, das System als Ganzes in Gang zu halten.
    Großbritannien versuchte das Weltsystem auf ein recht einfaches Ziel hinzulenken. »Das große Ziel der Regierung in jedem Teil der Welt war, den Handel des Landes auszuweiten«, erklärte der Premierminister dem Parlament 1839. 67 Aber in der Praxis war dieses Lenken alles andere als einfach. Britische Politiker mussten vier extrem unterschiedliche Instrumente koordinieren. Das Erste war das eigentliche United Kingdom, Heimat der weltgrößten Industrie und einer boomenden Bevölkerung, die mehr Migranten in die Welt schickte als jede andere Nation der Erde. Die Royal Navy, die stärker war als die zwei oder sogar drei nächststärksten Kriegsmarinen zusammen, hielt die Seewege für Emigranten, Importe und Exporte offen – und dazu gehörten nicht nur Baumwolle, Stahl und Maschinen, sondern auch eine verlockende sanfte Macht ( soft power ), die der Welt Business Suits, Sandwiches und Fußball sowie Dickens, Darwin und Kipling brachte.
    Das zweite Instrument war Indien auf der anderen Seite der Welt. Der Subkontinent wies nicht nur ein beträchtliches Handelsdefizit gegenüber Großbritannien auf, sondern unterhielt auch eine eigene Armee mit über 200   000 Mann. Sie war Großbritanniens strategische Reserve. Als die Briten 1799 Napoleon aus Ägypten vertreiben, 1839 die Öffnung der chinesischen Märkte erzwingen, 1856 den Schah von Persien einschüchtern oder 1879 Russland aus Afghanistan drängen (oder 1942 Rommel in el-Alamein stoppen) mussten, erledigten überwiegend Inder diese Aufgabe.
    Die Flut britischer Emigranten – insgesamt etwa zwanzig Millionen – machte das dritte Instrument aus: ressourcenreiche Kolonien weißer Siedler auf anderen Kontinenten. Ihr explosionsartiges Wirtschaftswachstum spielte im Laufe des 19. Jahrhunderts eine zunehmende Rolle; und im 20. Jahrhundert waren ihre jungen Männer für die Verteidigung der Weltordnung ebenso wichtig wie die Inder.
    Schließlich gab es noch ein viertes Instrument: ein ausgedehntes Netz von Kapital, Experten, Transportwegen, Telegrafen, Finanzdienstleistungen und Investitionen. Dieses riesige, unsichtbare Imperium reichte weit über die rosa markierten Gebiete auf dem Globus hinaus. Ganze Länder – Argentinien, Chile, Persien – wurden so abhängig von britischen Märkten und Geldern, dass Historiker sie häufig als informelles Empire bezeichnen. Sie unterstanden zwar nicht unmittelbar den Anweisungen britischer Politiker, wagten es aber nur selten, britischen Finanziers die Stirn zu bieten. In den 1890er Jahren brachten Transporte und Dienstleistungen Großbritannien Einnahmen in Höhe von etwa drei Vierteln der Warenexporte.
    Dieses komplexe Weltsystem in Gang zu halten war ein heikler Balanceakt. Es erforderte, dass asiatische Reiche schwach blieben, in Europa Frieden (oder zumindest kein umfangreicher Völkerkrieg) herrschte und die Vereinigten Staaten weiterhin stark, aber kooperativ waren. Und da Großbritannien nur selten einen dieser Akteure zwingen konnte, seine zugedachte Rolle zu spielen, hing alles von einer fein abgestimmten Mischung aus Kanonenbootdiplomatie, Marktzwängen und aufgeklärtem Eigeninteresse ab.
    Ständig gab es Krisen. Zur schlimmsten kam es 1857 in Indien, als ein großer Aufstand die Briten vollständig hätte vertreiben können, wenn er eine bessere Führung gehabt hätte. In Europa musste Russland 1854 mit

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