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Krieg – Wozu er gut ist

Krieg – Wozu er gut ist

Titel: Krieg – Wozu er gut ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Morris
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den Kriegstoten hinzuzählen, was wir meiner Ansicht nach tun sollten, sind die Zahlen schockierend: Zwischen 1500 und 1650 wurde die Urbevölkerung der Neuen Welt um die Hälfte dezimiert. Historiker, die die Eroberung Amerikas als »amerikanischen Holocaust« bezeichnen, haben also durchaus gute Argumente auf ihrer Seite. 70
    In Südasien starben durch die Eroberungen der Ostindienkompanien ab den 1750er Jahren sicher Hunderttausende Einheimische, denen meist nur geringe Verluste auf europäischer Seite gegenüberstanden. Bei einer Bevölkerung, die sich zu Beginn dieser Periode auf etwa 175 Millionen Menschen belief und stetig wuchs, können Schusswaffen und Säbel nur einen Bruchteil von einem Prozent zur Sterberate beigetragen haben. Ein Historiker behauptet, die Briten hätten nach dem Aufstand 1857 etwa zehn Millionen Menschen, also jeden 25. Inder massakriert; aber auch wenn die Vergeltungsmaßnahmen grausam genug waren, um selbst viele Briten zu schockieren, setzen fast alle Experten die tatsächliche Zahl um beinahe eine ganze Größenordnung niedriger an. Hunderttausende Todesopfer sind entsetzlich, aber selbst im schlimmsten Fall töteten die Briten weniger als jeden 250. Inder.
    Wie bei der europäischen Eroberung Amerikas starben auch in Indien die meisten nicht durch unmittelbare Gewalt, sondern durch deren Folgen, die hier nicht in Krankheiten, sondern in Hungersnöten bestanden. Zwischen der großen bengalische Hungersnot 1769 bis 1770 und der gesamtindischen Hungersnot 1899 bis 1900 verhungerten dreißig bis fünfzig Millionen Inder. Da in diesen 130 Jahren in Indien etwa eine Milliarde Menschen lebten, starb also jeder Zwanzigste bis Dreißigste an kriegsbedingten Hungersnöten – sofern man für diese grauenhaften Missstände ausschließlich die Briten verantwortlich machen wollte.
    Die unmittelbare Ursache dieser Katastrophen war meist schlechtes Wetter, vor allem El-Niño-Phänomene, aber manche Historiker machen die Eroberung oder britische Dickfälligkeit und/oder Dummheit dafür verantwortlich, dass aus unvermeidbaren Krisen durchaus vermeidbare Katastrophen wurden. Von Anfang an war diese Frage ein politischer Spielball, und wahrscheinlich wird die Schuldfrage nie eindeutig geklärt werden. Aber selbst die antieuropäischsten Kritiker müssten wohl einräumen, dass die Eroberung Indiens wesentlich weniger Todesopfer forderte als die Amerikas.
    In China zeigte sich wieder ein anderes Muster. In den Kriegen gegen europäische und (in geringerem Ausmaß auch) japanische Invasoren starben zwischen den 1840er und 1890er Jahren Hunderttausende. Da in diesen fünfzig Jahren in China etwa 750 Millionen Menschen lebten, kam durch die Kriege unmittelbar jeder Tausendste um; zu den meisten Todesopfern kam es hier jedoch erst, als die Qing-Dynastie zu zerfallen begann und überall in China Aufstände ausbrachen. Diese Bürgerkriege forderten zig Millionen Menschenleben. Tatsächlich schrumpfte Chinas Bevölkerung zwischen 1840 und 1870 um zehn Prozent, wobei Gewalt und nachfolgende Hungersnöte und Krankheiten die meisten Verluste forderten.
    Um diese Schreckensliste zu vervollständigen, ist festzustellen, dass verschiedene Teile Afrikas überaus unterschiedliche Erfahrungen machten. An einigen Orten stießen Europäer auf so gut wie gar keinen Widerstand und hatten kaum Einfluss auf die Menschen, die sie angeblich beherrschten. Die riesigen französischen Kolonien in Westafrika waren so etwas wie virtuelle Besitztümer, in denen beinahe kein Vertreter der Regierung in den unbewohnten Weiten der Sahara beinahe keine Untertanen verwaltete. Aber andere Gebiete erlitten eine grauenvolle Geschichte. Ein Extremfall war der Kongo-Freistaat, den Belgien 1884 eroberte. Hier sorgte ein brutales Bestrafungssystem für Einheimische, die nicht die festgesetzten Kautschukquoten ablieferten, bis 1908 vermutlich für eine Halbierung der Bevölkerung durch Hunger und Krankheiten.
    Niemand kann bestreiten, dass der Fünfhundertjährige Krieg die Welt für die Eroberten gefährlicher machte. Genau wie die Römer hinterließen auch die Europäer mit großer Regelmäßigkeit verbrannte Erde. Aber – ebenfalls genau wie bei den Römern – bestand das Erbe des Krieges in Frieden. In den meisten Fällen sahen sich die Eroberten, sobald der Kanonenrauch sich verzogen hatte, die zerschlagenen Institutionen wiederaufgebaut waren und sich neue Antikörper gebildet hatten, von mächtigen neuen Leviathanen regiert, die

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