Krieg – Wozu er gut ist
Renaissance, die ihre Altvorderen 1830 damit schockierten, dass sie Tom Paine den Hindu-Schriften vorzogen – gingen in ihrer Hinwendung zu allem Britischen gar noch weiter. Aber ihre Ansichten bleiben genau wie die von Roy und Lieutenant Murray anekdotisch. Solange Sozialhistoriker die mühsame Archivarbeit, mit denen Elias seine Aussagen über die Abnahme der Gewalt in Europa untermauerte, nicht geleistet haben, und solange Anthropologen nicht mehr Belege für gewaltsam beigebrachte Verletzungen an Skeletten auflisten können, sind wir genau wie bei unseren Studien an antiken Reichen auf qualitative Indizien angewiesen. Nichtsdestotrotz sind die vorhandenen Daten doch von erheblichem Gewicht. Trotz ihrer Selbstgefälligkeit waren Kipling und Lieutenant Murray auf einer richtigen Fährte: Sobald die Eroberung abebbte und die Rebellionen niedergeschlagen waren, senkten europäische Reiche in der Regel die Rate der gewaltsamen Tode.
In den Kolonien und Grenzgebieten herrschte immer mehr Gewalt als im europäischen Kernland, wo um 1900 nur einer von 1600 Einwohnern einem Mord zum Opfer fiel. Rauer ging es auch in den weißen Siedlerkolonien zu, wo seinerzeit immer noch einer von 200 Amerikanern eines gewaltsamen Todes starb. Und selbst innerhalb der weißen Siedlerkolonien gab es große Unterschiede zwischen den städtischen Kerngebieten und wilderen Peripherien: Mord kam in Neuengland nicht häufiger vor als im alten England, aber Teile des amerikanischen Westens und Südens waren zehnmal gefährlicher. (Laut einer Anekdote antwortete ein Südstaatenbewohner auf eine entsprechende Frage eines Yankees: »Er vermute, dass es im Süden einfach mehr Leute gebe, die man töten müsse.« 79 )
Die Wahrscheinlichkeit, im Krieg getötet zu werden, sank nahezu ebenso schnell wie die, ermordet zu werden. Wenn wir sämtliche Schlachten, Belagerungen und Fehden mitrechnen, starb um 1415 etwa einer von zwanzig Westeuropäern eines gewaltsamen Todes; aber zwischen 1815 und 1914 führten Europäer weniger große Kriege. Der schmutzige, blutige Krimkrieg 1854 bis 1856 forderte 300 000 Menschenleben, der Deutsch-Französische Krieg 1870 bis 1871 über 400 000 und der Russisch-Türkische Krieg 1877 bis 1878 eine halbe Million; aber selbst wenn wir sämtliche Kriege hinzuzählen, starben zwischen 1815 und 1914 weniger als einer von fünfzig Europäern (wahrscheinlich eher einer von hundert) eines gewaltsamen Todes.
Nahezu ebenso selten waren Kriege zwischen Kolonien weißer Siedler (im Gegensatz zu Kriegen, die sie gegen Nichtweiße führten). In Amerika forderte der grauenvolle Tripel-Allianz-Krieg von 1864 bis 1870 (mit dem Argentinien, Brasilien und Uruguay eine Expansion Paraguays verhinderten) etwa eine halbe Million Menschenleben und der Amerikanische Bürgerkrieg (1861–1865) nahezu eine dreiviertel Million. In Afrika starben im Zweiten Burenkrieg (1899–1902) mindestens 60 000 Menschen. Insgesamt war bei Europäern, die sich in Übersee ansiedelten, die Wahrscheinlichkeit eines gewaltsamen Todes nicht mehr wesentlich höher als bei denen, die in der Heimat blieben.
Der Fünfhundertjährige Krieg war von ganz anderen Dimensionen als die produktiven Kriege, die die antiken Reiche hervorgebracht hatten. Massenarmeen und Eisenwaffen hatten es den Römern, Han und Maurya ermöglicht, subkontinentale Machtsphären zu sichern. Seetüchtige Schiffe, Feuerwaffen und die Dampfkraft dehnten Europas Reichweite jedoch über die ganze Erde aus. Die Kriege der Antike hatten Gesellschaften hervorgebracht, die zig Millionen Menschen umfassten und in denen die Sterberate für gewaltsame Todesfälle, wie ich annehme, bei zwei bis fünf Prozent lagen; der Fünfhundertjährige Krieg aber brachte Gesellschaften hervor, die hunderte Millionen Menschen umfassten, und in Zentraleuropa lagen die Sterberaten für Gewalt hernach in Bereichen von eins bis drei Prozent. In den weißen Siedlerkolonien von Amerika und Australien dürften die Ziffern etwas höher gelegen haben, und in den Kolonien noch höher.
Eine lückenhafte Datenlage, wenig wissenschaftliches Interesse und die ungeheure Vielfalt an Orten – von der Hölle auf Erden wie dem Kongo über Margret Meads Samoa bis hin zu schläfrigen Außenposten in Nepal – lassen aussagekräftige Schätzungen über den Prozentsatz an gewaltsamen Todesfällen kaum zu. Das bedeutet, dass die Zahlen, die ich hin und wieder nenne, ausgesprochen spekulativ sind. Insgesamt lässt sich sagen, dass
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