Krieg – Wozu er gut ist
den gesamten Planeten ins Auge fassen und über die vergangenen 100 000 Jahre betrachten, sehen wir sofort, dass die Geschichte einerseits sehr viel komplizierter und andererseits sehr viel einfacher ist, als Pinker annimmt.
Was die Geschichte länger und komplizierter macht, ist der Umstand, dass die in Europa und Amerika zu verzeichnende Abnahme der Gewalt im vergangenen halben Jahrtausend keine einmalige Entwicklung war. In Kapitel 1 und 2 haben wir gesehen, dass die Häufigkeit, mit der Menschen gewaltsam zu Tode gebracht wurden, zu Zeiten der antiken Reiche ebenfalls abnahm, und am Ende des 1. Jahrtausends vor Christus vielleicht noch ein Viertel dessen betrug, was noch tausend Jahre zuvor üblich gewesen war. Zwischen 200 und 1400 n. Chr. nahm dann die Gewalt in Eurasiens Glücklichen Breiten, in denen der größte Teil der Weltbevölkerung lebte (Kapitel 3), erneut zu, bevor eine zweite große Pazifizierungswelle – die, auf die sich Pinker konzentriert hat – ihren Anfang nahm (Kapitel 4 und 5). Bereits eine ganze Weile vor 1900 war das Risiko, einen gewaltsamen Tod zu sterben, noch unter das in den antiken Reichen gesunken, und seither nimmt es unaufhörlich ab.
Was die Geschichte jedoch einfacher macht, als Pinker sie sieht, ist die Tatsache, dass ein Vergleich zwischen den beiden Perioden rückläufiger Gewalt in Antike und Neuzeit gegenüber dem Mittelalter, der dazwischen liegenden Epoche mit einer Zunahme an Gewalt, zeigt, dass wir statt fünf Faktoren eigentlich nur einen einzigen Faktor benötigen, um zu erklären, warum die Gewalt abgenommen hat. Dieser Faktor ist eben, wie Sie an diesem Punkt des Buches ohne allzu große Verwunderung zur Kenntnis nehmen werden, das Konzept eines produktiven Krieges.
»Die zuverlässigste Instanz zur Gewaltverminderung,« erkennt Pinker, »ist wahrscheinlich ein Staat, der seine Bürger mit Hilfe seines Gewaltmonopols voreinander schützt.« 12 Aber die Wirklichkeit scheint mir sehr viel klarer zu sein. Zehntausend Jahre hindurch ist ein produktiver Krieg stets die verlässlichste Triebkraft zur Eindämmung von Gewalt und zur Schaffung größerer, von Leviathanen regierter Gesellschaften gewesen, die, um im Wettbewerb mit anderen Leviathanen zu überleben, zu stationären Banditen werden und energisch gegen nicht autorisierte Gewalt vorgehen mussten. Die übrigen vier Faktoren, die Pinker anführt, sind allesamt Folgen eines durch einen produktiven Krieg erreichten Friedens und keine unabhängigen Ursachen, die für sich stehen.
Am augenfälligsten wird dies im Falle des Handels. In der Antike und dann noch einmal nach 1500 n. Chr. erhöhte die unsichtbare Hand den Lohn für kommerzielles Kooperieren – aber nur deshalb, weil die unsichtbare Faust bereits die Kosten für den Einsatz von Gewalt hochgeschraubt hatte. Ob wir uns das antike Rom, das Han- und das Maurya-Reich oder die modernen Staaten Europas anschauen: Immer kam erst die Faust und dann die Hand. Als um das Jahr 200 n. Chr. in Eurasien die Faust das erste Mal versagte und Nomaden aus der Steppe die antiken Reiche in die Knie zwangen, versagte auch die Hand. Erst als europäische Schiffe und Kanonen die Ozeane eroberten, kam der globale Handel in Gang und erreichte im 19. Jahrhundert, dem goldenen Zeitalter des damaligen Globocops, schwindelnde Höhen. Als dieser Weltpolizist zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu schwächeln begann, schwächelte auch der Handel, und die Gewalt nahm sprunghaft zu. Und wie wir in Kapitel 7 sehen werden, hat die Einsetzung eines neuen Weltpolizisten nach 1989 ein neues Zeitalter der kommerziellen Expansion eingeläutet.
Das langfristige Muster ist klar: Der Leviathan erhöht die Kosten für Gewalt, macht Frieden lohnenswerter als diese, und je friedvoller die Bedingungen werden, desto leichter fällt es dem Handel zu blühen, was wiederum den Lohn für kooperatives Verhalten weiter in die Höhe treibt.
Empathie und Vernunft gehörten sowohl in der Antike als auch in modernen Zeiten zu den Folgen produktiver Kriege. Aufgeklärte Gentlemen des 18. Jahrhunderts verfassten leidenschaftliche Pamphlete, denen zufolge Menschlichkeit und Mitgefühl zum ewigen Frieden führen würden, undberiefen sich zur Rechtfertigung ihrer Ideen häufig auf römische Schriften – aus dem guten Grund, dass römische Gentlemen die Dinge vielfach ganz ähnlich gesehen hatten. Aber in beiden Fällen waren weder Empathie noch Vernunft die Haupttriebfeder beim Rückgang der Gewalt. Wie
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