Krieg – Wozu er gut ist
Zeitalter.
Pinker mutmaßt, dass es fünf Kräfte waren, die den Lohn der Gewalt verändert und Brutalität weniger attraktiv gemacht haben. An erster Stelle, sagt er, steht unser alter Freund, der Leviathan. Regierungen sind zu stationären Banditen geworden, die Aggressoren abstrafen. In seinem Pazifistendilemma würde sogar die minimale Strafpunktzahl von minus 15 Punkten die Belohnung für den Sieg in einem Kampf von plus zehn auf minus fünf Punkte hinunterdrücken, weniger also als die durchschnittlichen fünf Pluspunkte für friedfertiges Verhalten. Das wird Leviathans Untertanen rasch dazu bringen, das Kriegsbeil zu begraben.
Doch Regierungen, so Pinker, sind nur der erste Schritt. Auch der Handel hat die Friedensdividende in die Höhe getrieben. Wenn der Lohn fürHandel jedes Mal, wenn beide Spieler sich für Kooperation und gegen einen Kampf entscheiden, für beide mit hundert Pluspunkten zu Buche schlägt, so Pinker, lässt das Endergebnis von 105 Pluspunkten die zehn, die sie bei einem gewonnenen Krieg verbuchen würden, zu Nichts verblassen (ganz zu schweigen von den fünfzig Minuspunkten, die sie bei einem Krieg zu erwarten hätten, der sich in die Länge zieht, ohne dass es zu einer Entscheidung kommt). Palaver fängt an, deutlich besser auszusehen als Prügel.
Und dann, erklärt Pinker, ist da noch die Verweiblichung. In jeder bekannten menschlichen Gesellschaft sind Männer für nahezu alle Gewaltverbrechen und Kriegstreibereien verantwortlich. Seit den Anfängen der Geschichtsschreibung haben Männer – und männliche Werte – dominiert. In den vergangenen paar Jahrhunderten aber haben – ausgehend zunächst von Europa und Nordamerika, nach und nach aber in aller Welt – Frauen einen deutlichen Machtzuwachs zu verzeichnen. Wir haben es noch nicht so weit gebracht wie die Bonobos, bei denen Weibchen aggressiven Männchen zeigen, wo es lang geht, aber, so Pinker, der Feminismus hat Gewalt deutlich weniger lohnend gemacht, indem er den Machismo lächerlich statt ruhmreich aussehen lässt. Wenn, so spekuliert er, achtzig Prozent des Lohns für den erfolgreichen Einsatz von Gewalt psychologisch begründet sind, dann lässt die zunehmende Bedeutung feministischer Werte die Prämie für einen Sieg von zehn auf zwei Punkte fallen. Das liegt weit unter den fünf Punkten, die jeder Mensch für friedfertiges Verhalten verbuchen kann, und würde den Pazifismus rasch als evolutionär stabile Strategie verankern.
Das ist aber noch nicht alles. Seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert, spinnt Pinker den Faden weiter, hat Empathie massiv an Bedeutung gewonnen. »Ich spüre deinen Schmerz« – das ist keineswegs neumodisches New-Age-Gedöns. Andere Menschen als Mitmenschen zu sehen hat sowohl den psychologischen Lohn dafür, anderen zu helfen, als auch die Kosten dafür, andere zu verletzen, steigen lassen. Wenn die Entscheidung für friedliche Kooperation jedem Spieler nur ein Plus von fünf Wohlbefindlichkeitspunkten verschaffte, würde dies den Lohn für eine Zusammenarbeit für beide Seiten auf zehn Pluspunkte erhöhen, und dann würde jede wie auch immer geartete Verminderung des Wohlbefindens – beispielsweise durch Schuldgefühle, weil man anderen Schmerz zugefügt hat – den Lohn für Aggression auf unter zehn Punkte fallen lassen. Und wieder wären Friede, Freude und Verständnis die Tagessieger.
Schließlich, mutmaßt Pinker, haben auch Wissenschaft und Vernunft das Verhältnis von Lohn und Kosten verschoben. Mit der wissenschaftlichenRevolution im 17. Jahrhundert haben wir gelernt, die Welt objektiv zu betrachten. Wir verstehen, wie das Universum seinen Anfang genommen und das Leben sich entwickelt hat. Wir haben das Higgs-Teilchen aufgespürt. Wir haben sogar die Spieltheorie erfunden. Das Wissen darum, dass Kooperation rationaler ist als der Einsatz von Gewalt, muss den psychologischen Lohn für Erstere in die Höhe treiben, für Letztere hingegen verringern.
Gegen Pinkers Argumentation ist absolut nichts einzuwenden, aber ich glaube, wir können eigentlich noch weiter gehen. In der Einleitung zu diesem Buch habe ich die Betrachtung der langfristigen Tendenzen der Weltgeschichte als eines unserer wirksamsten Werkzeuge zur Deutung der Welt bezeichnet, und ich möchte an dieser Stelle zu bedenken geben, dass Pinker, indem er seinen Schwerpunkt auf die Entwicklungen in Europa und Nordamerika in den letzten 500 Jahren beschränkt hat, nur einen Teil des Bildes ausleuchtet. Wenn wir stattdessen
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