Krieg – Wozu er gut ist
Strategie als das Hissen einer weißen Fahne zu belächeln.« 34 Das war offenbar genau der Schluss, den die Volksbefreiungsarmee zog. »Die US-amerikanische Macht«, verkündete ihr frisch eingesetzter stellvertretender Stabschef in einer Zeitung der Kommunistischen Partei, »ist im Niedergang begriffen, und die Herrschaft über die Region Asien-Pazifik liegt jenseits ihrer Möglichkeiten.«
Vielleicht war meine Verwirrung in Canberra berechtigt. Im Westpazifik ist nichts klar, weil der Nebel aus unbekannten Unbekannten hier dichter ist als an jedem anderen Ort der Erde. Und doch müssen genau hier die wichtigsten Entscheidungen getroffen werden. »Wenn wir mit China einen Fahler machen«, bekannte ein Washingtoner Insider, »wird das in dreißig Jahren das Einzige sein, an das sich jeder erinnert.« 35
Die Fesseln sprengen
Der schlimmste Fehler, der den Vereinigten Staaten im Zusammenhang mit China passieren könnte, wäre derselbe, den Großbritannien vor einem Jahrhundert im Zusammenhang mit Deutschland gemacht hat: sich in einen Krieg hineinziehen zu lassen.
Für die Experten in Washington ist das am ehesten vorstellbare Szenario, dass China sich die Senkaku-, Spratly- oder Paracel-Inseln oder irgendein anderes ähnlich isoliertes Stückchen Grund und Boden einverleibt und dabei vielleicht hofft, dass es die Inselkette durchbrechen kann, wenn die Vereinigten Staaten schwach reagieren und ihre Alliierten sie im Stich lassen. Doch kaum jemand glaubt, dass das geschehen wird. Im Jahr 2011 bat die Politikzeitschrift Foreign Policy eine Gruppe von Experten, die Wahrscheinlichkeit für einen chinesisch-amerikanischen Krieg innerhalb des kommenden Jahrzehnts auf einer Skala von eins (unmöglich) bis zehn (sicher) zu bewerten. Niemand tippte mehr als fünf, der Durchschnitt lag bei nur 2,4. 36 Und Nichtfachleute stimmen dem zu. Im selben Jahr stellte das Pew Research Center fest, dass nur zwanzig Prozent der Amerikaner China als die größte internationale Bedrohung betrachten – wenngleich das immerhin einer Verdopplung seit 2009 entspricht und China damithöher lag als jedes andere Land (auf Platz zwei lag Nordkorea mit 18 Prozent). 37
Dass dieser Inseldiebstahlplot als so unwahrscheinlich erscheint, liegt darin begründet, dass die amerikanische Dominanz trotz Chinas militärischer Aufrüstung noch immer überwältigend ist. Jeder Angriff würde China einen Gegenangriff einbringen, amerikanische Strategen sprechen von einer »Air Sea Battle« (Luft-Seeschlacht). Die Vereinigten Staaten verfügen über weit gediehene Pläne für einen Cyberkrieg und würden mit einem massiven elektronischen Erstschlag eröffnen, der Chinas Stromnetze und Finanzen lahmlegen, seine Satelliten und Luftraumüberwachung ausschalten und alle Befehls- und Kontrollwege blockieren würde. Marsch- und ballistische Flugkörper, die auch nach Tausenden Flugkilometern noch mit einer Treffergenauigkeit von fünf bis zehn Metern rings um das angepeilte Ziel einschlagen, würden Chinas Rollfelder zerlöchern und seine Boden-Luft-Abwehr vernichten. Nahezu unsichtbare Tarnkappenflieger – B-2-Bomber, F-22-Jagdflugzeuge und schließlich auch F-35-Kampfjets – würden tief im Inneren zuschlagen und alle Abschussrampen dem Erdboden gleichmachen. China würde binnen Stunden das Heft aus der Hand gerissen werden, und während amerikanische Admirale vielleicht noch zögern, sich der chinesischen Küste mit ihren Schiffen zu nähern, werden ihre Marineflugzeuge und Raketen jedes Schiff versenken, das China törichterweise in See stechen ließe, und jeden Durchbruch in der Inselkette pulverisieren.
Experten in Peking scheinen ebenfalls der Ansicht zu sein, dass die Besetzung von Inseln unklug wäre. Sie vertreten allerdings den Standpunkt, dass das wahre Sicherheitsrisiko nicht in einem chinesischen Erstangriff, sondern in einem Präventivschlag seitens der Amerikaner bestehe. In den 1950er Jahren drangen amerikanische Panzer an den Yalu vor, den Grenzfluss zwischen der Volksrepublik und Nordkorea, und die Vereinigten Staaten drohten zweimal mit einem Nuklearschlag. Selbst der im Allgemeinen besonnene Hu Jintao fühlte sich gelegentlich bedrängt und gab 2002 zu bedenken, dass die Vereinigten Staaten »ihre militärische Präsenz im asiatisch-pazifischen Raum verstärkt, die amerikanisch-japanische Militärallianz intensiviert, die Kooperation mit Indien verbessert, die Beziehungen zu Vietnam vertieft, in Afghanistan einer proamerikanischen Regierung
Weitere Kostenlose Bücher