Krieg – Wozu er gut ist
weiteren fünf Jahren setzte ein ungarischer Artillerieexperte in osmanischen Diensten Dutzende Geschütze mittlerer Größe ein, um die Stadtmauern Konstantinopels zu durchlöchern und das Byzantinische Reich zu beenden.
Ständig gab es weitere Verbesserungen. Europäer lernten, Schießpulver anzufeuchten und in Körnern trocknen zu lassen, die mit erheblich größerer Sprengkraft detonierten. Anfangs gab es keine Geschütze, die der Wucht des gekörnten Schwarzpulvers standhielten. Aber in den 1470er Jahren führte ein Rüstungswettlauf zwischen Frankreich und Burgund zur Entwicklung kürzerer Geschütze mit dickeren Rohren, die mit gekörntem Schwarzpulver Eisen- statt Steinkugeln verschossen. Die Ungarn fanden eine andere Verwendung für das stärkere Schießpulver: Sie luden geringe Mengen in Handfeuerwaffen, Hakenbüchsen oder Arkebusen genannt(weil sie sich mit einem Haken am Lauf fixieren ließen, um den Rückstoß abzufangen).
Die neuen Waffen kamen 1494 in einem spektakulären Probelauf zum Einsatz, als der französische König Karl VIII., besessen von der Idee, das Heilige Land durch einen Kreuzzug zurückzuerobern, sich in den Kopf setzte, als logischen ersten Schritt Italien zu erobern. In vielerlei Hinsicht war sein Feldzug ein Desaster, aber er zeigte, dass die neuen Waffen die Kriegführung revolutioniert hatten. Mit nur einigen Dutzend leichten Geschützen auf dem neuesten Stand der Technik zerschoss er alles, was sich ihm in den Weg stellte. Jahrhundertelang war den Verlierern auf dem Schlachtfeld immer noch die Möglichkeit geblieben, sich in einer Burg zu verschanzen in der Hoffnung, die folgende Belagerung auszusitzen. Aber nun mussten die Italiener erfahren: »Die Gewalt des Geschützes ist so groß, dass es keine Mauer gibt, so dick sie auch seyn mag, die nicht in wenigen Tagen eingeschossen wäre.« 3 So formulierte es Machiavelli, der den Krieg erlebt hatte.
Als erste Folge dieser Entwicklung nahm die Zahl der Schlachten zu, weil jeder Armee, die das freie Gelände aufgab und sich in ihre Festungen zurückzog, nun die sichere Niederlage drohte. Von 1495 bis 1525 kam es in Westeuropa zu einem Dutzend großer Feldschlachten, eine seit der Antike beispiellose Häufung.
Aber das änderte sich im Laufe der folgenden zehn Jahre in dem Maße, wie die Verteidigungstechnik auf die Fortschritte der Angriffstechnik reagierte. Die Europäer gaben nun die hohen Steinmauern auf, die seit Jericho in prähistorischer Zeit Angreifer abgewehrt hatten. An ihrer Stelle bauten sie nun niedrige Erdwälle, die Kanonenkugeln ablenkten oder absorbierten. Die neuen Wälle waren für die Infanterie zwar leichter zu überwinden, aber auch für dieses Problem war eine Lösung zur Hand: »Die erste Kunst ist, die Mauer gekrümmt und voller Einbiegungen und Wendungen zu machen, wodurch der Feind verhindert wird, sich ihr zu nähern, da er leicht nicht allein in der Fronte, sondern auch in der Flanke beschossen werden kann«, empfahl Machiavelli um 1520. 4
In den folgenden hundert Jahren entstanden in ganz Europa kostspielige neue Mauern in Sternform mit Ravelins, Bastionen und Hornwerk. Sobald geschlagene Armeen sich wieder in uneinnehmbare Festen zurückziehen konnten, verloren Schlachten umgehend ihren Reiz. Von 1534 bis 1631 riskierten die Westeuropäer kaum direkte Konfrontationen, und wenn sie sich doch darauf einließen, geschah es meist, wenn eine Seite in einer Belagerung für Entsatz zu sorgen versuchte. »Denn wir führen Krieg eherwie Füchse denn wie Löwen«, erklärte ein englischer Soldat, »und auf eine Schlacht kommen zwanzig Belagerungen.« 5
Das alles klingt nach einer weiteren Geschichte der Roten Königin, in der Europäer immer schnellen rannten, nur um am selben Fleck zu bleiben, und in immer grauenhafteren, aber letztlich sinnlosen Kriegen Blut vergossen und Gold verschwendeten. Aber ebenso wie bei den antiken Revolutionen in Militärangelegenheiten, von denen in Kapitel 2 die Rede war, könnte nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein. Unter den Westeuropäern konnte sich zwar keiner einen Vorsprung gegenüber den anderen verschaffen, aber sie zogen allen anderen auf der Erde davon.
Jahrhundertelang hatten sich die Europäer gegenüber Mongolen, Türken und anderen Invasoren in der Defensive befunden. Der Fall Konstantinopels 1453 erschütterte den ganzen Kontinent, und 1529 stand eine türkische Armee vor den Toren Wiens. Eine Generation später sahen Europas Aussichten noch düsterer
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