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Krieg – Wozu er gut ist

Krieg – Wozu er gut ist

Titel: Krieg – Wozu er gut ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Morris
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aus. Der führende europäische Unterhändler in Konstantinopel musste sich finster eingestehen: »Notwendig müssen die einen siegen, die anderen untergehen.« Denn auf Seiten der Christen standen »Armut des Staates, Verschwendung des Privatmanns, verminderte Kräfte, gebrochener Mut«, auf der anderen »die unendlichen Mittel des Türkenreichs, ungebrochene Kräfte, Waffenkunst und -übung, lang gediente Soldaten, Siegesgewohnheit«. 6
    Zur Verwunderung der meisten seiner Zeitgenossen bewahrheiteten sich seine düsteren Vorahnungen nicht. Denn noch während der Botschafter seinen Brief schrieb, verschob sich das militärische Kräfteverhältnis zugunsten Europas. Der türkische Kommandeur in Ungarn berichtete 1600: »Die Heere dieser Verfluchten [d.   h. der Christen] sind meist Fußtruppen und Arkebusiere. Die islamischen Heere sind meist Reiter und haben nicht nur wenig Infanterie, sondern auch kaum Männer, die sich auf den Gebrauch der Arkebusen verstehen. Aus diesem Grund gibt es große Schwierigkeiten in Schlachten und Belagerungen.« 7
    Seit hundert Jahren hatten die Europäer die Zahl der Schützen mit Feuerwaffen in ihren Armeen stetig erhöht. Dieser Trend beschleunigte sich noch ab den 1550er Jahren, als die Spanier eine neue Art von Handfeuerwaffe mit längerem Lauf und höherer Mündungsgeschwindigkeit einführten: die Muskete. Damit konnte eine zwei Unzen schwere Bleikugel abgefeuert werden, die auf hundert Schritt Entfernung einen Brustpanzer durchschlug. Gab es in den 1520er Jahren bei der Infanterie in der Regel drei Soldatenmit Klingenwaffen – Lanzen, Schwertern und Hellebarden – auf einen Arkebusier, so hatte sich das Verhältnis von Schuss- zu Klingenwaffen hundert Jahre später umgekehrt. Die Kavallerie hatte ihre im Mittelalter herrschende Dominanz verloren und war so weit zurückgedrängt, dass sie nur noch für Spähtrupps, Scharmützel und Flankenschutz zum Einsatz kam. Im 17. Jahrhundert machten Reiter kaum mehr als ein Zehntel einer Armee aus.
    Hier zeigt sich ein weiteres Paradox. Um 1415 verfügten die Mongolen und die Chinesen der Ming-Dynastie über die stärksten Streitkräfte der Welt, und Heinrich V. und andere europäische Könige hinkten weit hinterher – bis 1615. Denn vielleicht sogar schon ab 1515 trat eine Wende ein, nach der nur wenige Armeen der Welt es mit der europäischen Schlagkraft hätten aufnehmen können. Über die besten Kanonen verfügten mittlerweile die Europäer, nicht etwa die Asiaten, die die Feuerwaffen erfunden hatten.
    Warum behielt China seinen anfänglichen Vorsprung bei den Feuerwaffen nicht bei und führte nicht seinen eigenen Fünfhundertjährigen Krieg gegen die Welt? Das ist vermutlich die wichtigste Einzelfrage der gesamten Militärgeschichte, aber über die Antwort besteht wenig Einigkeit.
    Nach der populärsten Theorie, der wir in einigen Versionen bereits in früheren Kapiteln begegnet sind, profitierten die Europäer von einer einzigartigen westlichen Kriegführung, die sie von den alten Griechen übernommen hatten und die für ihre Schießpulverrevolution verantwortlich war. »Das Entscheidende an Feuerwaffen und Sprengstoffen ist nicht, dass sie westlichen Armeen plötzlich eine Vormachtstellung verliehen«, so der Militärhistoriker Victor Davis Hanson , »sondern dass solche Waffen in westlichen, aber nicht in außereuropäischen Ländern in großer Zahl und Qualität hergestellt wurden – eine Tatsache, die aus einer seit langem bestehenden westlichen Grundeinstellung zu Rationalismus, freier Forschung und Wissensverbreitung zu erklären ist, die ihre Wurzeln in der klassischen Antike hat.« Dass Europa durchstartete, war seiner Ansicht nach »logisch, angesichts der hellenistischen Ursprünge der europäischen Kultur«. 8
    In diesem Stadium des Buches dürfte es kaum noch überraschen, dass mich das nicht überzeugt. In Kapitel 2 habe ich zu zeigen versucht, dass es so etwas wie eine antike westliche Kriegführung nicht gab, weil die Art, wie Griechen und Römer kämpften, keineswegs einzigartig für den Westen war. Es war lediglich die lokale (mediterrane) Ausprägung eines Musters, das durchgängig in den gesamten Glücklichen Breiten Eurasiens zu finden war und das wir als produktive Kriegführung bezeichnen können. In Kapitel 3habe ich das Argument vertreten, dass dieser antike produktive Krieg sich im 1. Jahrtausend n.   Chr. angesichts der Zunahme der Kavallerie überall von China bis in den Mittelmeerraum auflöste. Wenn

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