Krieg – Wozu er gut ist
baute einen noch stärkeren Leviathan auf.
Zeitgenossen hätten 1650 oder sogar 1700 durchaus den Eindruck gewinnen können, Asien sei der große Gewinner seit der Erfindung der Feuerwaffen. Von den Asiaten hatte Europa Feuerwaffen und seetaugliche Schiffe übernommen, aber die Europäer hatten das Geschenk mit Zinsen vergolten, indem sie die Schiffe verbessert und dann genutzt hatten, um ebenfalls verbesserte Feuerwaffen nach Asien zu bringen. Mit Feuerwaffeneuropäischen Stils hatten Asiaten den produktiven Krieg wiederbelebt, die Steppe geschlossen und größere, sicherere und reichere Imperien denn je aufgebaut. Europa hingegen, das zu erobern nicht einmal das Osmanische Reich in seinem ewigen Wettrüsten um die Eroberung von allem und jedem fertiggebracht hatte, blieb ein zersplittertes, zerstrittenes Gewirr von Königreichen, Fürstentümern, Zarenreichen und sogar einigen Republiken. Nicht wenige Europäer, die den Glanz des Ostens voller Ehrfurcht sahen, fürchteten, dass sie immer weiter zurückfallen würden.
Drill, Baby, drill!
Sie hatten unrecht. Die Europäer waren weit davon entfernt zurückzufallen; in Wirklichkeit machten sie einen Sprung nach vorn – und zwar, indem sie auf der Stelle traten.
Mit dieser gewundenen Formulierung meine ich, dass die Europäer lernten, ihre Soldaten und Seeleute in Reih und Glied zu organisieren und sie dazu zu bringen, ihren Mann zu stehen. Das ermöglichte es ihnen, ihre Feuerkraft bestmöglich zu nutzen. Bis 1650 hatten die Europäer die verborgenen Prinzipien erkannt, die hinter der Kriegführung mit vormechanischen Feuerwaffen standen, und in den folgenden 150 Jahren perfektionierten sie diese Regeln. Asiatische Reiche mochten den produktiven Krieg wiederbeleben, aber Europäer erfanden ihn von Grund auf neu.
Noch 1590 bestand die größte Schwäche europäischer Armeen und Flotten in der Langsamkeit und Ungenauigkeit ihrer Musketen und Geschütze, die es mit etwas Glück und gutem Timing möglich machte, dass Kavallerie oder Piraten sie überwältigten, bevor die Schützen nachladen konnten. Der Legende nach kam Graf Wilhelm Ludwig von Nassau-Dillenburg (Befehlshaber der niederländischen Armee, die einen zermürbenden Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien führte) 1594 auf eine Lösung, als er einen römischen Text über den besten Einsatz von Speeren las.
Wilhelm Ludwig schrieb umgehend einen Brief (Abbildung 4.7) an seinen Vetter Moritz von Oranien und legte dar, dass fähige Musketiere etwa alle dreißig Sekunden einen Schuss abfeuern konnten. Aber was wäre, wenn sie nicht alle gleichzeitig schössen, sondern sechs Reihen hintereinander bildeten, die jeweils nacheinander schössen, wie es die römischen Speerwerfer getan hatten? Dann könnte die erste Reihe schießen, auf dem Absatzkehrtmachen und sich schnell durch die anderen Reihen nach hinten begeben. Während sie zurückträte, könnte die zweite Reihe schießen; während diese zurückträte, könnte die dritte Reihe schießen und so fort. Bis die sechste Reihe geschossen und sich zurückgezogen hätte, wäre die erste Reihe wieder feuerbereit. Statt einer großen Salve alle dreißig Sekunden könnten die Musketiere so alle fünf Sekunden eine kleine Salve abfeuern – was einem ständigen Kugelhagel nahe genug käme, um den Vorstoß von Kavallerie oder Piraten aufzuhalten.
In der Praxis – gegen Feinde, die zurückschossen – war das allerdings schwieriger, als es theoretisch klang, aber zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges, in den 1620er Jahren, gelang es schwedischen Soldaten schließlich, das Salvenfeuer so umzusetzen, wie es nach Wilhelm Ludwigs Vorstellung funktionieren sollte. Den Durchbruch erzielte der schwedische König Gustav II. Adolf, indem er die niederländische Idee auf den Kopf stellte. Statt die Männer nach dem Schießen zurückgehen zu lassen, ließ Gustav Adolf sie zehn Schritte vortreten, schießen und dann an Ort und Stelle nachladen. Nacheinander »treten die Reihen vor sie, feuern auf die gleiche Weise, bis der ganze Trupp entladen hat und wieder von vorn beginnt …, ständig vorrückend gegen einen Feind und niemals zurückweichend nach der Losung: Tod oder Sieg«, wie ein schottischer Offizier in Gustav Adolfs Armee erklärte. 19
Gustav Adolf erkannte, dass es notwendig war, auch die übrige Armee umzuorganisieren, um die in Salven schießende Infanterie bestmöglich zu nutzen. Feldartillerie sollte nun massiert zum Einsatz kommen und mit mobilen Geschützbatterien
Weitere Kostenlose Bücher