Krieger der Stille
ferne Land, von dem der Bergriese gesprochen hatte, die Seele bedeutete.
Amphane war außer sich vor Freude und weinte aus Dankbarkeit. Sofort kehrte er um, weil er seinem Volk die frohe Nachricht bringen wollte. Seine Reise dauerte zwanzig Jahre. Doch die Seinen reagierten mit Wut und Sarkasmus auf seine Erkenntnis. Die Priester und die Propheten verjagten ihn. Da tat der Geist der Materie seinen Zorn kund. Er sandte einen brennend heißen Regen vom Himmel, der die Felder, die Stadt und das Vieh zerstörte … Die Priester und die Propheten wurden vom Blitz erschlagen …
Da folgte das verschreckte Volk Amphane, doch dieser starb während der Reise, die noch einmal dreißig Jahre dauerte. Das Volk aber siedelte am Fuß des Hymlyas-Gebirges. Andere Propheten kamen. Sie sprachen im Namen des Schöpfervaters und führten die Gayalas ein – Zeremonien zum Zeitpunkt der Tagundnachtgleiche –, wobei die Eingeweihten oder Amphanen versuchten, den Dialog mit den fliegenden Steinen vom heiligen Feld zu erneuern.
Doch seit Menschengedenken hat noch kein einziger Stein Verzeihung gewährt. Und es ist ein alter Mann, der euch dies sagt: Die Eingeweihten sind
gefährlicher als die nukleare Pest. Niemals wird das Leid der Menschen auf Terra Mater enden, es sei denn, ein Mensch mit der unschuldigen Seele eines Kindes nimmt sich ihrer an …
Mündlich überlieferte Legende der fliegenden Steine, vom Mahdi Shari des Hymlyas von Terra Mater mitgebracht, die ihm wiederum von dem großen ameurynischen Erzähler Halaïne Jabrane berichtet wurde.
R und, glatt und grau, sein Stein war größer und schöner als alle anderen Steine auf dem riesigen Wüstenfeld.
Shari Rampouline hatte nur kurz gezögert, ehe er seine Wahl traf, denn als er ihn zum ersten Mal erblickte, schien der Stein ihn gerufen, ja herausgefordert zu haben. Einem König gleich thronte er inmitten des amphanischen Feldes, von vielen kleinen, asymmetrischen und verwitterten Steinen umgeben. Er war majestätisch, ein Herrscher, der der Unzulänglichkeit seiner Untertanen die Ehre erwies.
Am Horizont zeichnete sich die scharf gezackte Linie des Hymlyas-Gebirges ab, mit seinen vom ewigen Eis bedeckten Bergspitzen. Einige große schwarz-weiße Raubvögel mit weit ausgebreiteten Schwingen – Aïoulen – ließen sich von Luftströmungen tragen und stießen im Kreisen von Zeit zu Zeit raue Schreie aus; sie klangen wie gebrochene Trompetentöne.
Der vor seinem Stein kniende Knabe versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Er war den langen holprigen und gewundenen Weg von der Stadt Exod zum heiligen Feld gelaufen. Seine Haut und seine Lungen brannten von der drückend heißen Luft. Schweiß lief über seine Stirn, rann ihm in die Augen, über seinen Oberkörper und seinen von der Sonne verbrannten Rücken. Als einziges Kleidungsstück
trug er einen winzigen bunten Lendenschurz. In seiner Ungeduld erwachsen zu werden, hatte er darauf bestanden, dass seine Mutter ihm diesen Schurz webe. Denn dieses Stück Stoff war das äußere Zeichen für seinen Eintritt ins Leben der Erwachsenen. Weil er nun nicht mehr nackt war und sein Geschlecht verhüllen konnte, fühlte sich Shari schon fast wie ein Mann.
Ein dumpfes Gefühl der Angst rumorte in seinem Inneren und schnürte ihm die Kehle zu wie immer, wenn er heimlich das heilige amphanische Feld betrat. Er brach die Gesetze der Ahnen, die Gesetze des ameurynischen Volkes. Sollte einer der Amphanen – diese Priester mit ihren fürchterlichen Worten und Blicken – ihn inmitten der heiligen Steine antreffen, würde man ihn der Obhut seiner Mutter entziehen und ihn bis zur Volljährigkeit in eine Anstalt für Geächtete sperren. Denn er war kein Eingeweihter, kein Gelehrter, er hatte die prophetischen Verse aus der Region der versunkenen Felsen nicht studiert; er hatte kein Recht, zu den Steinen zu sprechen.
Trotzdem hielten Shari Rampouline weder diese Furcht vor den Priestern noch die Liebe zu seiner Mutter davon ab, den Steinen, die er als seine Freunde betrachtete, häufig Besuche abzustatten. Denn seit Halaïne Jabrane, der Geschichtenmacher, ihm während einer wunderschönen Sternennacht die uralte Legende von den fliegenden Steinen erzählt hatte, wo alle Menschen mit dem Geist der Materie sprechen konnten, war Shari überzeugt, dieser glückliche Erwählte zu sein, der eines Tages die Steine zähmen und auf ihnen reiten könne. Er würde der Erste sein, der mit den Aïoulen über den Wolken und über den weißen
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