Krieger der Stille
Zweifel kein Platz war.
Jeden Morgen, wenn die ersten Sonnenstrahlen ihn weckten, erfüllte ihn eine wilde Gewissheit: Heute würde sich sein Stein bewegen, heute würde er sich mit der Leichtigkeit eines Vogels in die Lüfte schwingen, sich elegant über die Schäfchenwolken erheben, diese flüchtigen stummen Reisenden, die geräuschlos die himmlische Ebene durchquerten.
Während der Hitzeperioden im Sommer blieb die amphanische Schule, die alle Kinder besuchen mussten, geschlossen. Und deshalb hatte Shari genug Zeit, sich dem zu widmen, was er seine persönlichen Stein-Übungen nannte.
Die Sonne stand im Zenit. Die Luft flirrte vor Hitze und verzerrte in der Ferne alle Formen. Das Licht war
gleißend hell. Es herrschte Stille; kein Vogel schrie, kein Windhauch regte sich.
Shari hatte große Mühe, sich zu konzentrieren. Sein sonst so starker Wille wurde immer schwächer, sein Geist erschöpfte sich in oberflächlichen Gedanken.
Zum ersten Mal zweifelte der Knabe an der Legende. Das ist vielleicht nichts anderes als ein Märchen, dachte er, ein Märchen wie das von der schrecklichen Nuklear-Hexe mit ihrer furchtbaren Armee der Kernfusionsatome. Mutter hat oft gesagt, dass die Erzähler Lügner seien. Sie schmücken ihre Geschichten aus, fügen etwas hinzu, lassen etwas weg, ganz wie es ihnen gefällt. Das ist schließlich ihr Beruf. Aus einer Anekdote machen sie eine schöne Geschichte. Und Halaïne Jabrane ist wie alle anderen. Diese Leute sind nichts anderes als komische Erwachsene, die Kindern komische Ideen in ihre Köpfe pflanzen.
Wie hätte Shari Rampoulines unwissender Geist diesen Felsen bewegen können, den hundert starke Männer nicht einen Millimeter von der Stelle hätten rücken können? Kein gelehrter Amphane hatte seit Jahrhunderten dieses Wunder vollbracht. Plötzlich hatte Shari das unangenehme Gefühl, dass man ihn zum Narren gehalten hatte. Tränen des Zorns und Ärgers rannen über seine runden Wangen.
Da erhob sich eine erfrischende Brise und spielte mit dem ockerfarbenen Staub, der über dem Wüstenplateau lag. Kleine Wirbel stiegen zwischen den verstreut liegenden Steinen auf. Große braune Augen starrten den Knaben an … Eine halb verdurstete Sandgazelle hatte sich verirrt … Ihre Hufe trommelten auf die Erde, als sie von Panik ergriffen floh.
Shari drängte seine Tränen zurück. Er wollte sich nicht
geschlagen geben. Er würde es nicht zulassen, dass sein Traum so einfach platzte. Er starrte die raue Oberfläche des Steins an, bis das Bild vor seinen brennenden Augen verschwamm, bis ihm schwindelig wurde. Er flehte ihn stumm an: »Fliege! Fliege! Fliege … Ich bitte dich: fliege!«
Doch das einzige Resultat dieser geistigen Anstrengung waren heftige Kopfschmerzen.
Besiegt rollte er sich am Fuß des Felsens auf dem heißen, mit Kieseln bedeckten Boden zusammen. Die spitzen Steine rissen seine Haut auf, und winzige Blutstropfen perlten aus den Abschürfungen. Er hatte das Gefühl, die Welt stürze ein und unter ihm öffne sich ein Abgrund, der ihn zu verschlingen drohe … Seine Illusionen waren an diesem harten, gefühllosen Stein zerbrochen, und seine Träume hatten nichts als einen bitteren Geschmack in seinem Mund hinterlassen. Wie lange er in tiefster Verzweiflung so dagelegen hatte, wusste er nicht zu sagen.
Shari wollte auch nicht in die befestigte Stadt Exod zurückkehren, die sich im Inneren eines Vulkans befand. Dort glaubte er immer, ersticken zu müssen. Seine Mutter wollte, dass er Amphane wurde, weil sie glaubte, dadurch ein höheres Ansehen zu erlangen. Denn das Fundament der hierarchischen ameurynischen Gesellschaft war die Kaste der Priester – die Shari öde und deprimierend fand, ja geradezu verabscheute. Das waren herzlose Männer, die sich als Hüter der Tradition betrachteten, aber letztendlich nur deren Gefangene waren.
Wie schon Halaïne Jabrane so bildhaft gesagt hatte, man sollte ihnen die Eier abschneiden und sie ihre eigene Scheiße fressen lassen! Halaïne Jabrane … Warum hat er mir Lügen erzählt?, dachte Shari. Dazu hatte er kein Recht. Aber ich habe so viel Angst vor diesem Gefängnis
der Priesterkaste gehabt, dass ich alles geglaubt habe, nur um diesem Schicksal zu entgehen! Ich war wie diese blöden Autrulen mit ihrem roten Gefieder, die alles verschlingen, sogar ihre eigenen Eier und ihre Küken, wenn sie Hunger haben. Halaïne Jabrane, du Lügner, du hast mich verraten … Der gezähmte Stein würde ein Fenster zur Unendlichkeit
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