Krieger der Stille
Gipfeln des Hymlyas-Gebirges flöge.
Halaïne Jabrane war jener alte Clochard, über den sich
alle in Exod lustig machten. Seine tief liegenden Augen unter weißen Brauen glänzten in seinem zerfurchten Gesicht wie Sterne. Wenn er seine Geschichten erzählte, unterstrich er sie mit lebhaften Bewegungen seiner schönen, schlanken Hände. Shari und ein paar Kinder waren seine einzigen Zuhörer. Der Geschichtenerzähler hatte behauptet, dass den Menschen, sollten sie je das verloren gegangene Wissen ihrer Vorfahren wiedererlangen und mit dem Geist der Materie sprechen können, aufs Neue alle Wünsche erfüllt werde.
»Auch wenn sie völlig verrückt sein sollten, diese Wünsche!«, hatte er vehement verkündet. »Doch dieser gesegnete Tag wird erst kommen, wenn es einem Wesen reinen Herzens …« und an dieser Stelle hatte er auf den Boden gespuckt, » … und nicht einem dieser verfluchten Amphanen – man sollte ihnen die Eier abschneiden und sie ihre eigene Scheiße fressen lassen! – gelingt, allein durch die Kraft seiner Unschuld einen Stein des heiligen Feldes hochzuheben … Aber diese Gayalas sind wie Frauen mit samtener Haut und fauligem Innerem!«
Da hatte Shari versucht sich vorzustellen, wie das faulige Innere einer Frau mit samtener Haut aussähe, wahrscheinlich wie vergammeltes Fleisch mit Würmern darin, und er hatte begriffen, warum er die Gayalas nicht mochte, diese Zeremonien anlässlich der Tagundnachtgleiche. Sie fanden zur Sommer- und Wintersonnenwende statt. Alle Einwohner Exods und der benachbarten Städte begleiteten die Amphanen dann auf einem Blumenteppich bis zum heiligen Feld. Dort blieben die Priester drei Tage und drei Nächte. Sie unterzogen sich geheimen Riten, deren Bedeutung der übrigen Bevölkerung verschlossen blieb. Doch seit Jahrhunderten hatte sich nicht ein einziger
Stein gerührt, ein Zeichen, dass der Mensch noch nicht reif genug für die Erneuerung eines Dialogs mit der Materie war.
»Sie sind es, die Amphanen mit ihrem Getue – mögen die Aïoulen ihnen ihre Gedärme aus dem Leib hacken! –, die es verhindern, dass die Steine sich wieder in die Lüfte erheben!«, hatte Halaïne Jabrane traurig lächelnd verkündet, ehe er sich erhob und hinkenden Schritts in der Nacht verschwand.
Seine Worte aber fanden einen Zuhörer mit offenen Ohren.
Dank eines ausgeprägten Vorstellungsvermögens hatte Shari die Legende für wahr gehalten und sich kühnen Träumen hingegeben. Seitdem übte er heimlich. Mit niemandem hatte er darüber gesprochen, weder mit seiner Mutter, weil sie ihn gescholten hätte, noch mit seinen Freunden, denn die hätten sich bloß über ihn lustig gemacht. Er war stark, denn aus naiver Gewissheit hatte er sich bereits der Vorrechte der schrecklichen Amphanen bedient, und nun besuchte er seinen Stein so oft er der Aufsicht seiner Mutter entkommen konnte. Seine Kameraden vermissten ihn nicht, weil sie ihn für einen versponnenen Einzelgänger hielten, was ihm nur recht war.
Als Shari endlich vor seinem Stein kniete, begrüßte er ihn mit ausgesuchtem Respekt, und ohne auf die verstreichende Zeit zu achten – oft kehrte er erst nach Einbruch der Nacht vom amphanischen Feld wieder nach Hause zurück. Er konzentrierte sich auf den unbeweglichen Felsen und befahl ihm, sich in die Lüfte zu erheben. Zu Sharis großer Enttäuschung hatte sich der Stein noch nie bewegt. Zweimal hatte er geglaubt, ihn zittern gesehen zu haben. Eine unendliche Freude hatte ihn bei diesen Gelegenheiten
erfasst. Doch leider hatte er sich schließlich eingestehen müssen, seinen Wunsch für die Wirklichkeit gehalten zu haben, und dass seine übermüdeten Augen ihm wohl etwas vorgegaukelt hatten. Ein schwarzweißer Aïoule setzte sich immer oben auf den Fels, und obwohl der Raubvogel zwei Meter über ihm war, glaubte Shari, in den runden gelben Augen des Tiers so etwas wie Spott aufblitzen zu sehen.
So kehrte er oft bedrückt und entmutigt nach Exod zurück. Wenn seine Mutter ihn fragte, warum er so niedergeschlagen sei, antwortete Shari, die Hitze mache ihm zu schaffen und die Bosheit seiner Kameraden und er langweile sich. Doch in Wahrheit hatte er seinen Plan noch nicht aufgegeben, was erstaunlich für einen Knaben seines Alters war. Im Gegenteil, wenn er seine düstere Stimmung überwunden hatte, wurde sein Wunsch noch intensiver. Seiner Erfolglosigkeit trotzte er mit Energie und Ausdauer. Er war körperlich und seelisch derart von seinem Gelingen überzeugt, dass für
Weitere Kostenlose Bücher