Krieger der Stille
er sich mit Leib und Seele der Heilkunst verschrieben hatte. Und er hätte glücklich und in perfektem Einklang mit sich selbst gelebt, wäre er nicht in den Besitz gewisser, tief in den Fundamenten des Klosters verborgener Geheimnisse gelangt. Nie hatte er jemandem mitgeteilt, was er in den Krypten und Kellern der Klosteranlage zufällig entdeckt hatte. Er hatte versucht, diese schrecklichen Bilder zu vergessen, doch die Erinnerung daran quälte ihn immer wieder. Sein einstiger Kommilitone Long-Shu Pae, ein bemerkenswerter Mann, war verbannt worden, weil er der Wahrheit zu nahegekommen war.
Doch er, Nobeer O’An, hatte sich der Wahrheit nicht nur genähert, er hatte ihr ins Gesicht gesehen. Und diese Wahrheit hatte ihn derart verstört, dass er es vorzog, für immer zu schweigen. Seitdem hatte er sich hinter seiner Übellaunigkeit versteckt wie hinter einer uneinnehmbaren Festung. Doch er wusste, dass er niemals ganz in den See des Xui würde eintauchen können, ehe er nicht die Mauern seines inneren Gefängnisses gesprengt hatte …
»Ich muss jetzt gehen«, sagte Filp. »Und ich hoffe von ganzem Herzen, Euch bald wiederzusehen … Diese drei Tage werden mir sehr lang erscheinen …«
Er betrachtete Aphykit noch einmal mit brennenden Augen, kämpfte energisch gegen den Wunsch an, noch länger zu bleiben, und ging.
»Ich komme gleich wieder«, sagte der Medicus, ehe er ebenfalls ging und die Tür hinter sich schloss.
Wie durch dichte Nebelschwaden formten sich Gedanken in Aphykits Kopf. Die täglichen Besuche des Ritters versetzten sie in ein Stadium der Trunkenheit, gegen das sie sich nicht mehr wehrte. Seine edlen Gesichtszüge, sein braunes gelocktes Haar, seine breiten Schultern und seine schönen kräftigen Hände sowie seine angenehme Stimme lösten in ihr den unwiderstehlichen Wunsch aus, sich ihm bedingungslos und mit all ihrer Leidenschaft hinzugeben.
Sie liebte seine verzehrenden Blicke, sie liebte den Kontrast zwischen der zarten, scheuen Berührung seiner Hände und dem Feuer, das in seinen Augen loderte. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich von einem Mann in diesem Maße angezogen – erst ihm war es gelungen, das Bild ihres früher so geliebten Vaters auszulöschen.
Den Verlust des Colancors war ihr seitdem gleichgültig geworden. Im Gegenteil, diese zweite Haut hätte eine Barriere zwischen ihr und seinen Blicken geschaffen. Sie gab sich rückhaltslos ihrer Verliebtheit hin und vergaß alles andere: den Tod ihres Vaters; ihre Zurschaustellung auf dem Sklavenmarkt, wo sie von unverschämten Blicken fast verschlungen worden war; das zerstörerische Virus, das sich in ihrem Körper ausbreitete. Und weil sie an dieses Krankenbett gefesselt war, nutzte sie die wenigen Momente klaren Bewusstseins zwischen ihren Fieberdelirien, um dieses bisher ungekannte, in ihr schlummernde Gefühl zu genießen.
Doch dann erhob das Antra, der Klang des Lebens, seine schwache Stimme tief in ihr, ein Murmeln, das immer leiser wurde und in ihr zu erlöschen drohte. Ihrem flüchtigen oberflächlichen Glück war es gelungen, diesen licht-und lebensspendenen Klang zu übertönen.
Nach Nobeer O’Ans Rückkehr schlief Aphykit wieder ein. Wie immer erschien ihr ein anderer Mann im Traum. Es war … wie hieß er noch? Ach ja, Tixu Oty, der Reisebüroangestellte, den sie auf Roter-Punkt zum Shanyan gemacht hatte. Das bedauerte sie. Sie hatte unverantwortlich gehandelt, als sie ihm den Klang des Lebens zum Geschenk machte. Denn sie hatte nicht bedacht, dass jede Initiaton eine heilige Handlung war …
Sie saß bis zum Hals in dem schwarzen fauligen Wasser eines Tümpels. Er stand am Ufer, doch er sah sie nicht. Da schrie sie seinen Namen, und das Wasser drang ihr in Mund und Nase – aber er sah sie noch immer nicht.
In Schweiß gebadet, keuchend vor Entsetzen wachte sie auf. Neben ihrem Bett stand Nobeer O’An und lächelte, ein groteskes Lächeln. Seine knochigen Finger umklammerten eine kleine schwarze Phiole.
SECHZEHNTES KAPITEL
Glaube nicht, dass die Lyra-Schlange, die
Um dich zu bezaubern,
In schönsten Farben schillert,
Deshalb ihr tödliches Gift verloren hat:
Gerade dann ist sie am gefährlichsten.
Maxime des Zweiten Sbaraïkischen Rings
In guten wie in bösen Stunden
Sind wahre Freunde miteinander tief verbunden:
Doch wird das klare Wasser der Intuition
Trübe durch wirre Konfusion,
Fällt die Entscheidung oft sehr schwer.
Denn welcher Mann – auch groß und
Weitere Kostenlose Bücher