Krieger des Lichts: Ungezähmtes Herz (German Edition)
doch ihr jetzt wacher Blick sagte ihm, dass sie es bereits wusste. Es hatte keinen Zweck, sie anzulügen. »Drei sind umgekommen. Zwei Frauen und ein Mann. Die andere Frau, die überlebt hat, ist in der Zelle da drüben.«
Er wies auf die gegenüberliegende Seite.
Ihr Kopf schoss herum, sodass sie die Frau mit dem Lippenpiercing deutlich sehen konnte, doch ihre Miene blieb unverändert. Sie fühlte sich ganz eindeutig nicht erleichtert.
»Sie kennen sie nicht.«
»Ich … doch, ich kenne sie, oder zumindest weiß ich, wer sie ist. Ihr Name ist Christy. Ich habe sie erst heute kennengelernt. Ihr Freund ist Mary Rose ’ Bruder. War.« Sie musste schwer schlucken. »Er war es.«
Sie hatte vieles auf sich genommen und es tapfer ertragen, das erkannte er an dem schwachen Beben ihrer Schultern. Allmählich jedoch zwang der Schmerz sie in die Knie. Obwohl schon fünf Tage vergangen waren, nahm sie an, alles wäre erst heute geschehen.
»Wie heißen Sie?«
»Natalie.« Ihre Stimme klang tränenerstickt. »Natalie Cash.«
»Es tut mir leid, Natalie.«
Eine dicke Träne tropfte ihr von der Wange. Dann noch eine.
Wulfe umklammerte die Gitterstäbe der Zelle, als er sah, wie sie mit der quälenden Trauer und dem Verlust kämpfte. Er hatte eigentlich erwartet, dass er bei den ersten Anzeichen von Tränen davonrennen wollte. Stattdessen verspürte er den Drang, sich vorwärtszubewegen, nicht zurück … um ihr Trost zu spenden. Das war lächerlich, er wusste gar nicht, wie man bei so etwas überhaupt vorgehen musste.
Ihr Weinen wurde heftiger, ihr Schluchzen schüttelte ihren ganzen Körper, und sie krümmte sich nach vorn.
Wenn er es doch nur schon in Harpers Ferry geschafft hätte, ihr die Erinnerung zu nehmen, dann müsste sie jetzt nicht so stark leiden.
Er richtete sich auf. Esmeria hatte gesagt, dass mittlerweile vielleicht genug Zeit verstrichen sei. Womöglich würde er es jetzt schaffen, sie zu löschen.
Er bewegte seine gewaltige Erscheinung langsam in die Zelle hinein, hockte sich neben sie und hoffte dabei, ihr keine Angst zu machen, wenn er ihr so nahe kam.
»Natalie?«
Sie setzte sich auf, sah ihn aus tränenüberströmten Augen an, und ihre Hand wanderte an ihr Gesicht, während sie erneut heftig schluchzte.
»Sehen Sie mich an. Schauen Sie mir in die Augen, und dann will ich versuchen, sie vergessen zu lassen.«
Ihr Kopf ruckte zur Seite. »Ich will nicht … «
Das Schluchzen wollte jedoch nicht enden, und so hörte sie schließlich auf, sich zu wehren, und sah ihm stattdessen in die Augen, wie er es von ihr verlangt hatte.
Er legte die Hand an ihr tränennasses Kinn, ließ den Blick für einen Moment auf der breiten, grotesk wirkenden Wunde über ihrem Wangenknochen ruhen und hob ihn dann wieder. Während er in ihre grauen Augen schaute, so unergründlich wie die sturmgepeitschte See, versuchte er noch einmal, ihren Geist zu betäuben und die Erinnerungen zu stehlen. Doch wie schon auf dem Schlachtfeld passierte wieder nichts.
Mit einem enttäuschten Seufzer ließ er sie los und stand auf, während sie sich zusammenkauerte, überwältigt vom Aufruhr ihrer Gefühle.
Endlich kamen Kara und Lyon, und er ging ihnen entgegen.
»Kein Glück gehabt?«, fragte Lyon.
»Nein.«
Kara gab einen gequälten Laut von sich. »Sie leidet, Lyon. Kannst du ihr nicht die Erinnerungen nehmen, so wie du es bei mir getan hast?«
»Sie ist ein Mensch.«
Kara sah ihn schief von der Seite an. »Und? Bis vor ein paar Wochen dachte ich das auch von mir.«
Lyon begegnete Wulfes Blick. In seiner Miene war deutlich das Unbehagen zu erkennen, sich einer weinenden Frau auch nur zu nähern.
Wulfe blickte ihn ungeduldig an. »Komm schon, sie ist okay. Sie könnte deine magische Berührung gebrauchen.« Lyon war der einzige unter den Kriegern, der diese besondere Gabe so wirksam einzusetzen verstand. Er ging voraus in die Zelle und ließ sich neben der trauernden Frau nieder. »Natalie? Das hier ist Lyon. Er wird Ihnen helfen. Geben Sie ihm Ihre Hand.«
Die Frau kämpfte gegen die Tränenflut und rang nach Luft, als sie sich wieder aufrichtete. Argwöhnisch und unsicher blickte sie zwischen Wulfe und Lyon hin und her.
Lyon streckte ihr die Hand entgegen. »Ich werde Ihnen nichts tun.«
Nach einem tiefen, bebenden Atemzug legte sie zögerlich ihre weitaus kleinere Hand in Lyons Pranke. Fast im selben Augenblick fiel deutlich sichtbar die Anspannung von ihr ab, und die Tränen versiegten.
»Wie machen Sie das?«
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