Kriegerin der Nacht
Keller. Widerlich süß, durchdringend, ein Gestank, bei dem sich einem der Magen umdrehte.
Machtvolle Hinterbeine wölbten sich und die Gestalt wuchs, und dann stand sie vor dem Hintergrund des mondhellen Himmels da.
Sie war riesig.
Im Geiste sah Kelly eine Szene, die eine Ewigkeit her zu sein schien. Iliana, wie sie mit großen violetten Augen fragte: »Er kann sich in einen Drachen verwandeln?«
Und Kellys geringschätzige Antwort: »Nein, natürlich nicht. Sei nicht dumm.«
Falsch, dachte Kelly.
Dabei sah er vielmehr wie ein Veloziraptor aus denn wie ein Drache. Er war zu groß - mehr als fünf Meter
lang, den machtvollen Schwanz mitgerechnet. Aber er zeigte den gleichen Ausdruck fremdartiger Intelligenz, die gleiche reptilienartige Schnauze, die gleichen säbelförmigen Hinterkrallen.
Er ist kein vernunftloses Tier, dachte Kelly. Er ist klug. Er hat an den Vorderbeinen sogar etwas wie Hände. Das ist der Punkt, an dem die Evolution eine andere Wendung genommen hat.
Und er hatte Macht. Vielleicht sogar noch mehr als in menschlicher Gestalt. Kelly konnte selbst aus dieser Entfernung seinen Geist spüren, den schrecklichen uralten Kern aus Hass und Bosheit, den endlosen Durst nach Blut.
Er öffnete das Maul und für einen Moment erwartete Kelly Feuer. Aber was herauskam, war ein Brüllen, das riesige, spitze Zähne zeigte - und eine Flut schwarzer Energie. Die dunkle Macht knisterte um ihn herum wie die Aura eines Blitzes.
Nichts - kein Gestaltwandler, keine Hexe, kein Vampir - konnte dieser Kreatur standhalten. Das wusste Kelly mit absoluter Sicherheit.
Und in diesem Moment sah sie, dass Iliana aufstand.
Bleib unten, du Idiotin!, dachte Kelly.
Iliana richtete sich hoch auf.
Es hat keinen Sinn, errege nicht seine Aufmerksamkeit ...
»Azhdeha!«, rief Iliana.
Und das Ungeheuer drehte sich um.
Da standen sie, die Jungfer und der Drache, einander direkt zugewandt. Im Kontrast zu diesem Riesen wirkte Iliana noch viel kleiner, als sie ohnehin schon war. Ihr silbrig-goldenes Haar wehte lose im Wind und ihr Kleid schimmerte um sie herum. Sie war so zierlich, so anmutig - und so zerbrechlich wie eine Lilie, die auf ihrem Stängel schwankt.
Ich kann nicht hinsehen, dachte Kelly. Ich kann mir das nicht ansehen. Bitte ...
»Azhdeha!«, rief Iliana und ihre Stimme war süß, aber widerhallend und streng. »Hashteher! Tiamat!«
Es ist ein Zauber, dachte Kelly. Hat Winnie ihr einen Zauber beigebracht? Als sie dort gelegen und miteinander getuschelt hatten? Aber was für eine Art von Zauber würde Winnie gegen Drachen kennen?
»Giftige Schlange! Kaltblütiger Beißer! Rastaban! Anguis!«
Nein, es sind Namen, begriff Kelly langsam. Seine Namen. Drachennamen.
Alte Namen.
»Ich bin eine Hexe und die Tochter einer Hexe. Meine Hand war die Hand, die deine Macht nahm; meine Hand war die Hand, die dich in Schweigen begrub. Hekate war die älteste meiner Mütter. Hekates Hand ist jetzt meine Hand.«
Das konnte Winnie ihr nicht beigebracht haben. Niemand konnte ihr das beigebracht haben. Keine der heute noch lebenden Hexen.
Kelly konnte Winnies bleiches Gesicht sehen, die hinter Iliana das Geschehen voller Überraschung verfolgte, während ihre Augen und ihr Mund ein dunkles »Oh« bildeten.
»Meine Hand ist die Hand, die dich zurückschickt! «
Iliana hatte die Hände jetzt gewölbt, und orangefarbenes Feuer knisterte zwischen ihnen.
Kellys Herz setzte einen Schlag aus.
Golden-orangefarbenes Feuer. Hexenfeuer. Es war beeindruckend, von einem Mädchen, das nie ausgebildet worden war, aber es war nicht annähernd genug. Es war für den Drachen in etwa so gefährlich wie eine Libelle.
In der Stille hörte sie Winnies Stimme, leise und furchtsam, aber entschlossen.
»Ziel auf das Horn!«
Der Drache warf den Kopf zurück und lachte.
So sah es jedenfalls aus. Was herauskam, war wieder ein Brüllen, wie all die anderen Brülllaute, und ein Rülpser von schwarzer Energie, die gen Himmel spritzte. Aber in ihrem Kopf hörte Kelly irrsinniges Gelächter.
Dann schwang der Drache seinen Schädel nach unten und richtete das Horn direkt auf Iliana.
Stirb!, sagte er. Das Wort wurde nicht ausgesprochen, sondern auf einer kalten Welle purer Energie ausgesandt.
»Mein ist die Macht der Zeitalter!«, rief Iliana zurück. »Mein ist die Macht...«
Die goldene Flamme in ihren Händen verwandelte sich, loderte weiß auf, blendend heiß ...
»... DES ENDES DER WELT!«
Etwas wie eine Supernova wurde zwischen ihren Händen
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