Kriegsenkel
an den Familienaufgaben beteiligt. Corinna Schneider und ich hatten uns in der Wohnung ihrer Eltern in Berlin verabredet. Der Vater befand sich bei meiner Ankunft in einem der hinteren Zimmer und versorgte Corinnas acht Monate alten Sohn. Nachdem auch der Vater mich begrüßt hatte, setzte er den Kleinen in den Kinderwagen und fragte seine vierjährige Enkeltochter, ob sie Lust habe, ihn beim Einkaufen zu begleiten, und das hatte sie.
Corinna Schneider und ich sind bei unserem Gespräch ungestört. Es fällt mir auf, wie gut sie sich in den Familien ihrer Eltern auskennt und wie reflektiert sie die 68er Bewegung in größere politische und historische Zusammenhänge einordnet. Ihr Vater war als Student Mitglied einer Berliner Kommune gewesen. Seine Tochter glaubt nicht, dass es sich um eine jener Altbauwohnungen gehandelt habe, deren Türen man aushängte, weil ein ungestörter Rückzug ins Private ideologisch unerwünscht war. Vielmehr, erklärt mir die APO-Tochter, bewundere sie den Umgang mit Geld, der damals dort praktiziert wurde, immerhin über eine Reihe von Jahren. Auch sie habe als Studentin in WGs gelebt, sie wisse also, wie das übliche Zusammenleben unter Gleichaltrigen funktioniere. Außerdem habe sie sich früher während ihrer freiwilligen Mitarbeit in einem europäischen Umweltnetzwerk mit alternativen Lebensformen auseinandergesetzt und dabei die Werte in der Kommune ihres Vaters besonders schätzen gelernt. Kaum sonst irgendwo wurde der Kerngedanke »Alle sind gleich« so konsequent umgesetzt. Alle teilten alles Geld mit allen. Corinna Schneider glaubt allerdings, dass die Rechnung emotional nicht ganz aufging. »Diejenigen, die etwas zu geben hatten, fühlten sich gut. Aber diejenigen, die nehmen mussten, denen ging es nicht gut damit. Von meinem Vater weiß ich, er hatte trotzdem immer ein schlechtes Gewissen, weil er so wenig Geld besaß.«
Der Kinderladen war von ihren Eltern und Freunden gegründet [199] worden, die es von Berlin in eine süddeutsche Universitätsstadt verschlagen hatte. Die Einrichtung befand sich auf dem Universitätsgelände. Während meine Gesprächspartnerin von ihren frühen Erinnerungen erzählt, gerät sie regelrecht ins Schwärmen: »Es gab dort so viel Freigelände. Da war ein Wäldchen, wo wir auf die Bäume klettern konnten. Wir durften uns dreckig machen, wir durften im Sommer nackig herumrennen und uns von Kopf bis Fuß bemoddern.« Kinder lieben das Spiel mit Matsch. Corinna Schneider sagt, auch für sie als Mutter bestätige sich, wenn ihre Kinder vom Spielen heimkämen, der Satz: Dreckige Kinder sind glückliche Kinder. Dass dies in den heute üblichen Kindergarten-Settings nicht möglich sei, bedauert sie sehr. Aber, fragt sie rhetorisch, wie sollte es anders sein? »Wenn eine Erzieherin auf 14 Kinder aufpassen muss, ist klar, dass nicht drei auf Bäume klettern dürfen, während fünf auf der anderen Hausseite moddern. Meine Tochter besucht einen ganz normalen Dorfkindergarten hier in der Nähe von Berlin. Da entschuldigen sich die Erzieherinnen beinahe, wenn die Kinder sich dreckig gemacht haben. Da hatten wir es damals besser! Da war immer ein Erwachsener in der Nähe, der ein Handtuch holte, wenn nötig auch ein Kind unter die Dusche stellte oder Streit schlichtete.«
Einmal in der Woche war »Schweinetag«. In der Küche hing dann ein Pappschild mit einem rosa Schwein. »Wir wussten: Heute dürfen wir mit den Händen essen. Es gab kein Besteck«, berichtet das frühere Kinderladenkind. »Mein Vater sang für uns damals das Lied: Gabel, Löffel, Messer, mit Fingern geht es besser! Wenn aber das Pappschild umgedreht wurde, erschien ein graues Schwein, was besagte: Es wird ordentlich gegessen.«
Es sei den Eltern wichtig gewesen, erfahre ich weiter, dass die von ihnen gegründete Einrichtung nicht ausschließlich von Akademiker-Kindern besucht wurde. Natürlich habe die Zusammensetzung keinen repräsentativen Querschnitt ergeben. Aber das Leben sei noch etwas bunter geworden, als Ahmed [200] dazugekommen sei, ein türkischer Junge, der vor allem deshalb in Erinnerung blieb, weil er Goldfische aus dem Aquarium herausfischte und daneben legte. Eines der Mädchen kam aus einer nahe gelegenen Hochhaussiedlung. Corinna war als Kind fasziniert davon, dass man so hoch wohnen konnte.
»Von dieser antiautoritären Erziehung ist mir vor allem im Bewusstsein geblieben: Es gab kein unbegründetes Nein«, berichtet sie. »Heute mit zwei eigenen Kindern muss ich
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