Kriegsenkel
weiter. Dafür sei sie ihren Eltern dankbar, sagt sie. Ihre Tochter sei die einzige in ihrer Kindergartengruppe, die gern Salat isst. Das mache sie als Mutter ein bisschen stolz, auch weil sich damit das Wertesystem ihrer eigenen Erziehung fortsetze. Und sie fügt hinzu: »Bei meinen eigenen Kindern mache ich heute vieles intuitiv oder auch bewusst sehr ähnlich, wie ich es selbst erlebt habe.« Und damit beendet Corinna Schneider ihren Bericht – mit einem Kompliment für ihre Eltern.
[203] Elftes Kapitel
NEBEL IM KOPF
[205] Im Kinderbett kam die Angst
Sie war eine gute Schülerin. Hausaufgaben machten ihr keine Probleme. Doch eines Tages sollte Sandra einen Aufsatz über ihre bisherige Kindheit schreiben und da wollte ihr partout nichts einfallen. In ihrem Kopf war nur Nebel. Als ihr Vater von ihren Schwierigkeiten erfuhr, sagte er: »Das ist doch ganz einfach. Du schreibst: ›Ich habe eine ganz liebe Familie und wir wohnen in einem schönen Vorort, und alles ist sehr sicher und gut.‹« Das Mädchen folgte seinem Rat und damit war die Hausaufgabe erledigt.
Richtig war, sie hatte eine liebe Familie gehabt. Richtig war auch, man hatte in einem schönen Vorort von Karlsruhe gelebt. Ja, alles war sicher und gut gewesen. Aber Sandra Hagen* hatte sich als Kind nicht sicher gefühlt . Abends konnte sie vor Angst oft nicht einschlafen. Sie befürchtete, es könne etwas ganz Schreckliches passieren. Gleichzeitig aber schämte sie sich, denn von ihren Eltern hatte sie nie etwas anderes gehört, als dass es überhaupt keinen Grund gebe, sich zu ängstigen. Sandra Hagen fällt nur eine einzige Situation ein, in der sie es allein nicht mehr aushielt und die Mutter weckte. Die erlaubte der Siebenjährigen, in ihr Bett zu kommen. Sandra erinnert sich noch, wie steif sie neben ihrer Mutter lag. Sie war ein sanfter und liebevoller Mensch, aber nicht der offene, mütterliche Typ, der Kinder in den Arm nimmt, um sie zu trösten, und so meinte ihre Mutter schon bald, jetzt sei es wohl Zeit, wieder ins Kinderzimmer zurückzugehen. Das kleine Mädchen fühlte sich noch schlechter als vorher. »Zu meiner Angst«, sagt Sandra Hagen, »kam noch die große Peinlichkeit, mich offenbart zu haben.«
Wir hatten uns während einer Tagung über Frauenarbeitslosigkeit [206] kennen gelernt. Sandra Hagen hatte mit viel Witz und Kompetenz einen Workshop zum Thema »Frauen und Geld« geleitet. Sie wirkte sehr selbstbewusst. Zu meiner Überraschung präsentierte sie mir während des Mittagessens eine ganze andere Seite ihres Wesens. Sie sagte, sie fühle sich noch heute, mit über 40 Jahren, durch ihre Familienprägung stark beeinträchtigt – ein Dauerthema, seit sie mit Mitte zwanzig ihre erste Therapie begann. Bis vor kurzem habe sie jedes Mal heftige Kopfschmerzen bekommen, wenn sie einen Besuch in Karlsruhe machte. Darüber hinaus erfuhr ich, sie lebe seit über zehn Jahren mit ihrem Freund zusammen, sie habe keine Kinder und habe sich nie Kinder gewünscht, da sie befürchtete, keine gute Mutter zu sein.
Sandra Hagen hat Kulturwissenschaften studiert und sich beruflich auf Frauenthemen spezialisiert. Als Honorarkraft in der Erwachsenenbildung ist ihr Einkommen gering. Sie lebt im Glockenbachviertel, einem bunten Szene-Viertel am Rand der Münchner Innenstadt, das in seiner Lebendigkeit und Vielfältigkeit in deutlichem Kontrast steht zu dem ruhigen, in der Nachkriegszeit entstandenen Karlsruher Wohnvorort ihrer Kindheit.
Sandra Hagen – schlank, kurzer Haarschnitt, feine Gesichtszüge, kein Make-up – wirkt bei unserem Wiedersehen größer, als ich sie in Erinnerung habe, was daran liegen mag, dass sie mich in einem engen Flur begrüßt. Wie schon bei unserem ersten Treffen trägt sie einen Pullover zu langen Hosen in Grau- und Brauntönen. Unser Gespräch bedarf keiner Anwärmphase. Sandra hat sich vorbereitet. Um sich in ihrem Dauerthema Familie nicht zu verlieren und um an ihrer eigenen Wahrnehmung festzuhalten, hat sie sich auf einem Zettel Stichworte gemacht. Überschrift: Wie es wirklich war. Genau genommen handele es sich um eine ›Verräterliste‹ sagt sie, denn damit verrate sie das Lebenswerk ihrer Eltern, »eine glückliche Familie zu bauen.«
[207] Zwangshandlungen
Im Kern geht es Sandra Hagen darum, mir zu erklären, warum sie kein Vertrauen ins Leben entwickeln konnte. Tief in ihr drin steckt ein altes Kindheitsgefühl: Ich bin völlig allein auf der Welt. Ich stehe am Abgrund. Noch heute kann sie plötzlich davon
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