Kriegsenkel
Eltern ein. Beide sind längst mit anderen Partnern zusammen. Nach dem Mauerfall zog der Vater wieder nach Berlin, die Mutter lebt auf dem Land, im Spessart. Während ich Katharina zuhöre, bedauere ich wieder einmal, dass ich die Version ihrer Eltern nicht kenne. Wenn eine Familie fünf Mitglieder hat, dann ergeben sich fünf verschiedene Familiengeschichten. Jede Person hat ihre eigene Sichtweise. Alf von Thalheim muss, wie Katharina ihn beschreibt, ein warmherziger aber auch gefürchteter Vater gewesen sein. Die Mutter mied den Körperkontakt zu ihren Kindern, es sei denn, sie mussten gewaschen oder umgezogen werden.
In dem Maße, wie die Tochter selbständiger wurde und ihre eigenen Gedanken entwickelte, wuchsen die Spannungen zwischen ihr und ihrem Vater. »Von meinem 12. bis zum 30. Lebensjahr habe ich ihn regelrecht gehasst«, sagt sie. »Umso enger wurde die Beziehung zu meiner Mutter – heute würde ich sagen, es war eine Abhängigkeit.« Ulrike von Thalheim hatte kaum Freundinnen. Die Tochter war die Vertraute ihrer Mutter, und das empfand die Jugendliche überwiegend als Auszeichnung. »Allerdings war es mir furchtbar unangenehm, wenn Mutter mit mir über Sexualität redete.«
Das Amerika-Desaster
Nachdem Katharina die zehnte Klasse abgeschlossen hatte, verbrachte sie ein Auslandsjahr bei Verwandten in den USA. Es sollte ein Jahr des großen Aufbruchs werden, tatsächlich war es ein Desaster. Ihre Tante in Amerika erwies sich als schwer de [192] pressiv, und der Onkel stellte seiner hübschen jungen Nichte nach. Wenn sie mit ihm allein im Haus war, schloss sie sich in ihr Zimmer ein. Grundsätzlich änderte das nichts, denn er blieb zudringlich, er nutzte jede Gelegenheit, um sie wie zufällig zu betatschen. Katharina erwog, vorzeitig nach Deutschland zurückzukehren, wusste aber nicht, ob sie Recht damit hatte, wenn sie ihre Lage als dramatisch ansah. Sie traute sich nicht, ihren Eltern zu schreiben, wie hilflos sie sich im Haus von Onkel und Tante fühlte.
Ihre große Angst war, man werde ihr zwar glauben, aber nichts unternehmen – eine Angst, die sich dann nach ihrer Heimkehr bestätigte. Zwar hörten sich die Eltern an, was vorgefallen war, doch es folgten keine Konsequenzen. »Meine Eltern wollten keinen Krach mit der Verwandtschaft riskieren«, urteilt Katharina rückblickend. »Also ließen sie die Sache auf sich beruhen.« Dennoch ergab sich ein ungutes Nachspiel. Katharina hatte, während sie sich in den USA aufhielt, einer Freundin in Deutschland über die sexuellen Belästigungen ihres Onkels geschrieben. Später zweifelte sie wieder an ihrer eigenen Wahrnehmung und schickte den Brief nicht ab. Und nicht nur das: Sie vergaß, ihn mitzunehmen, als sie die Heimreise antrat. Die amerikanische Tante fand den Brief und erzählte danach in der ganzen Verwandtschaft herum, wie undankbar und verlogen ihre Nichte sei. Alf und Ulrike Thalheim nahmen ihre Tochter nicht in Schutz. Sie schwiegen. Wenn sie die amerikanische Verwandtschaft auf Familienfesten trafen, wurde so getan, als sei nichts geschehen. Katharina, in deren Familie so viel vom Wert der Solidarität die Rede gewesen war, fühlte sich von ihren Eltern verraten. Ihre Schulleistungen ließen rapide nach. »Aber ich will mich hier nicht ausschließlich als Opfer darstellen«, räumt sie ein. »Meine Eltern haben von meiner Seite auch viel einstecken müssen. Meine Wutanfälle waren berüchtigt. Na ja, und auch heute nerve ich meine Geschwister durch meine Art und weil ich so oft weinen muss.«
[193] Als Katharina erkannte, sie würde das Abitur nicht schaffen, ging sie vorzeitig von der Schule ab. Sie begann eine Goldschmiede-Lehre, brach sie nach einem halben Jahr ab, fand eine neue Lehrstelle, scheiterte auch hier. Es war der Anfang ihrer »Angstpanik«, die sie zu Beginn unseres Gesprächs geschildert hatte. Danach besuchte sie eine Fachschule für Glasdesign und musste dort fast jedes Semester wiederholen. Immerhin gelang ihr ein ordentlicher Abschluss, doch der brachte sie beruflich nicht weiter. Wegen ihrer inzwischen chronisch gewordenen Ängste kam sie mit keinem Chef mehr zurecht. In den folgenden Jahren verdiente sie sich ihren Unterhalt mit irgendwelchen Jobs, gelegentlich auch in mediterranen Touristenorten.
Mit 23 Jahren zog sie wieder nach Berlin und machte ihre erste Psychotherapie. »Inzwischen bin ich bei der dritten Therapeutin gelandet«, erzählt sie. »Noch immer bin ich dabei, ein Knäuel zu entwirren. Ich hangele
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