Kriegsenkel
mich schon so lange am roten Faden meiner Geschichte und meiner Familiengeschichte weiter, erstaunt, dass ich immer noch nicht am Ende bin. Aber«, fügt sie hinzu, »vielleicht ist das nur eine Illusion. Vielleicht kommt man ja nie an ein Ende.« Ihre Mutter und ihr Vater kämen nicht auf den Gedanken, eine Therapie zu machen. Sie verstehen nicht, warum Katharina weiterhin »in den alten Geschichten wühlt«. Katharina hört aber nicht auf damit, sie kann es nicht. Sie wäre gern souveräner, sie leidet, weil sie so oft in Tränen ausbricht, wenn man ihr wieder einmal die Rolle der Spielverderberin bei netten Familienzusammenkünften vorwirft. »Seit mein Kind da ist – das einzige Enkelkind meiner Eltern – funktionieren einige Verhaltensmuster in der Familie nicht mehr so gut«, stellt sie fest. »Was mir dabei das Wichtigste ist: Als Judith auf die Welt kam, habe ich ihr versprochen, dass ich alles versuchen werden, damit sich das Unglück meiner Familie bei ihr nicht wiederholt.« Welches Unglück? Katharina macht ein nachdenkliches Gesicht. Dann räumt sie ein, sie stehe mit ihrer Sichtweise allein da.
[194] Zwei Jahre ohne Kontakt zur Mutter
Ihre Geschwister, sagt sie, seien der Ansicht, diese Familie sei nicht besser oder schlechter als andere auch. Lange Zeit ließ sich Katharina davon verunsichern. »Aber als dann Judith ein paar Monate alt war und ich sah, wie meine Mutter meine Tochter wie einen Sack über die Schulter warf, da wusste ich: Das hat sie mit uns genauso gemacht!« In der Folge wurden die Spannungen zwischen Katharina und Ulrike von Talheim immer größer. Schließlich unterbrach die Tochter den Kontakt und nahm ihn erst zwei Jahre später wieder auf. So lange, sagt Katharina, habe sie gebraucht, um ihre Beziehung zu ihrer Mutter zu klären. Sie schrieb ihr einen Brief mit der zentralen Frage: »Warum konntest du uns, als wir klein waren, nicht in den Arm nehmen?«
Die Funkstille von Seiten ihrer Tochter und der Verlust ihres Enkelkindes stürzte Ulrike von Thalheim in eine Krise – eine heilsame Krise, wie sich später herausstellte. Wie es schon öfter geschehen war, suchte sie das Gespräch mit ihrer Schwester, um sich mit ihren Fluchterlebnissen als Kind auseinanderzusetzen. Nach und nach füllten die beiden Kriegskinder ihre Erinnerungslücken wieder auf. Eines Tages riss der Vorhang, der Ulrikes Trauma verdeckt hatte: Sie war 1944 als kleines Mädchen von Soldaten vergewaltigt worden.
Mutter und Tochter haben sich ausgesprochen. Inzwischen besucht Judith wieder die Oma auf dem Lande. »Die Beziehung zu meiner Mutter ist okay«, sagte Katharina »Sie hat mir auch gesagt, wie leid es ihr tut, so viel Belastendes an mich weitergegeben zu haben.« Für Katharina ist es, wenn es um Fragen ihrer eigenen Identität geht, wichtig, sich als Kriegsenkel zu sehen. Sie interessiert sich nicht nur für die Vergangenheit ihrer Eltern, sondern auch für die ihres Landes. Bis vor wenigen Jahren wollte sie von der deutschen NS-Geschichte nichts hören. »Wir Kinderladenkinder schämen uns ein bisschen, weil wir so unpolitisch [195] sind«, räumt sie ein. »Aber wir haben alle komplett dicht gemacht. Wir hatten ja nicht nur 68er-Eltern, sondern auch 68er-Lehrer. Also gab es Nonstop die NS-Zeit. Uns quollen die Fakten aus den Ohren raus. Wären sie mit uns doch einmal in ein Konzentrationslager gegangen! Ich glaube, danach wäre der Stoff bei uns ganz anders gelandet. So aber blieb es abstrakt und weit, weit weg. Unsere Lehrer waren wie unsere Eltern – die konnten ja selber nicht nach Auschwitz gehen!«
Wir unterbrechen das Gespräch, weil es Zeit ist für das Mittagessen. Katharina schlägt vor, eine Pizzeria in der Nachbarschaft aufzusuchen. Sie wohnt, wie auch ihr Vater und ihre Geschwister, im Berliner Stadtteil Kreuzberg. Schon auf dem Weg von der S-Bahn-Station zu Katharinas Wohnung ist mir aufgefallen, dass hier die Graffitis explodiert sind. Keine Fassade, kein Mäuerchen, kein Stromkasten, kein Busfahrplan wurde verschont. Katharina steuert auf einen parkenden Wagen zu und ruft entsetzt: »Das kann doch nicht wahr sein!« Ein Sprayer ist mit rotem Lack über die Autotür hergefallen – ausgerechnet der Wagen ihres Vaters. Die Tochter schellt an seiner Haustür. Alf von Thalheim, ein 70-Jähriger, Typ Gentleman mit einem gepflegten Bart, kommt auf die Straße. Er begrüßt mich freundlich. Dann erst wendet er sich dem Schaden an seinem Auto zu. Oberflächlich wirkt er gelassen, doch
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