Kriegsenkel
überschwemmt werden, aber es geschieht viel seltener als noch vor fünf Jahren. Während unseres Gesprächs kommt es vor, dass Sandra unvermittelt auflacht und sich dabei durch den braunen Haarschopf fährt. Es ist kein unbeschwertes Lachen, eher Galgenhumor. Manchmal ist es für sie einfach nur lachhaft, dass sie sich – ihre Haare werden schon grau – noch immer mit Belastungen aus ihrer Kindheit herumschlägt. Sie spürt sie vor allem dann, wenn sie unter seelischen Druck gerät, den sie mit Zwangshandlungen unter Kontrolle zu bringen versucht: 30-mal den Wecker in die Hand nehmen und wieder auf seinen Platz stellen. 10-mal eine bestimmte Handbewegung in einem festen Rhythmus ausführen, bevor sie das T-Shirt anziehen ›darf‹. Das kann aufgrund der Monotonie der Bewegung zu Verspannungen und Rückenbeschwerden führen. Schon im Vorschulalter hatte sie einen Waschzwang entwickelt. Und zwischen sechs und zehn Jahren konnte sie nicht einschlafen, ohne ein kompliziertes Ritual mit ihrem Kuscheltier absolviert zu haben. »Das musste ich 21-mal in einer bestimmten Weise hinlegen«, erklärt sie mir. »Aber so einfach war das nicht mit der Selbstberuhigung. Wenn ich das nicht hundertprozentig richtig machte, dann glaubte ich, würde etwas furchtbar Schlimmes passieren. Also kamen wieder die Zweifel: Vielleicht habe ich es ja beim letzten Mal falsch gemacht, und dann musste es noch mal 21-mal sein. Und dann noch mal … Zum Verzweifeln war das!«
Ihre Eltern, Marianne und Bernd Hagen*, hatten in den sechziger Jahren geheiratet. Mit ihrem Lebensziel ›glückliche Familie‹, dem sie alles andere unterordneten, bewegten sie sich [208] durchaus in einem neuen Trend. Gerade erst war die Zeitschrift »Eltern« gegründet worden. Marianne Hagen gab ihre Arbeit in der Altenbetreuung auf, was ihre Tochter Sandra mit den Worten kommentiert: »So hatten es meine Eltern vor der Heirat vereinbart – zu einer idealen Familie gehört, dass die Mutter zu Hause ist, wenn die Kinder aus der Schule kommen.« Der Vater, der sich von seinen Töchtern nie anders als »Bernd« nennen ließ, hatte sich vom Elektriker zum Elektroingenieur qualifiziert und verdiente gut. Die Mietwohnung lag im Erdgeschoß, dazu gehörte ein schöner Garten. Da fiel es den Eltern leicht, auf ein eigenes Haus zu verzichten. Sie wollten keine Schulden machen, die ein gutes Leben eingeschränkt hätten. Unter anderem bedeutete für sie ein gutes Leben, in einem gewissen Umfang reisen zu können. Auch durch Geschenke drückten sie ihre Liebe und Großzügigkeit aus. Sandra Hagen berichtet: »Trotz vieler Reibereien zu Weihnachten war das Geschenke auspacken immer ein sehr schöner und euphorischer Moment. Meistens wechselten meine Schwester und ich uns ab. Erst packte sie etwas aus, dann wieder ich. Jede von uns kriegte fünf bis sechs Geschenke, die sehr auf uns und unsere Wünsche abgestimmt waren!«
Die Eltern taten alles, um ihren Töchtern eine schöne Kindheit und Jugend zu ermöglichen, und sie wollten alles richtig machen. Auf keinen Fall sollten Sandra und die drei Jahre jüngere Stephanie* gegängelt werden. Sie sollten frei ihre Interessen entwickeln und sich nicht zu irgendetwas gedrängt fühlen. Sie sollten ihre ureigensten Fähigkeiten entdecken. Marianne und Bernd Hagen sahen sich als Begleiter und Förderer ihrer Töchter, denen sie mit Rat, Geld und Zeit zur Seite standen. Regelmäßig besuchte das Ehepaar einen Kreis von gleich gesinnten Müttern und Vätern. Zu ihren Vorstellungen über Erziehung wären die folgende Überschriften passend gewesen: Neue Eltern braucht das Land! Dressierte Kinder? – Nein danke! Für eine gewaltfreie Erziehung!
[209] Neue Eltern braucht das Land!
Marianne und Bernd Hagen gehörten, auch wenn sie sich fern der Kinderladenbewegung aufhielten, zu den Pionieren einer neuen Elterngeneration. Der »Elternkreis« – entstanden durch die Initiative einer Kirchengemeinde – war dabei ihre größte Stütze und er blieb es über zwei Jahrzehnte. Hier wurde regelmäßig über den richtigen Umgang mit Kindern diskutiert, es wurden Feste und Schwimmwettbewerbe organisiert, es wurden Sandkästen und Baumhäuser gezimmert. Fortschrittliche Väter wie Bernd Hagen definierten sich als die besten Freunde ihrer Kinder. Darum war für sie die Anrede »Papa« oder »Vati« nicht mehr zeitgemäß.
Es lässt sich vorstellen, wie anstrengend es gewesen sein muss, ständig die Kinder im Fokus zu haben und die eigenen
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