Kriegsenkel
sagen: Hut ab. Die Geduld muss man erst mal aufbringen! Ich erinnere mich an Situationen – da muss ich 6 oder 7 gewesen sein – dass ich meinen Willen bekam, weil ich die besseren Argumente oder doch zumindest gute Argumente hatte. Sehr erstaunlich, als Kind so ernst genommen zu werden.«
Als sie älter wurde, ging ihr das ständige Aushandeln manchmal auf die Nerven. Sie erinnert sich, wie sie zu ihrer Mutter sagte: »Könntest du wenigstens einmal einfach nur Nein sagen!« Da war sie 16 Jahre alt und hatte keine Lust mehr, eine halbe Stunde zu diskutieren. Sie glaubte, es müsse leichter sein, sich über ein Verbot hinwegzusetzen und nachher den Ärger der Mutter auszuhalten. »Aber insgesamt war ich sehr froh über diesen Erziehungsstil. Und ich glaube, er hat uns zu sehr verantwortungsvollen Menschen gemacht.« Sie erzählt, sie sei später als Gymnasiastin selbst dann, wenn sie morgens Bauchweh hatte und ihre Mutter vorschlug: »Leg dich doch wieder hin«, in die Schule gegangen, weil sie nichts verpassen wollte.
Corinna und ihre kleinere Schwester sind, wie man es von Kinderladenkindern weiß, gewaltfrei erzogen worden. »Uns war bewusst, dass die Eltern auf Schläge verzichten«, erzählt sie. »Meine Schwester hat einmal meinen Vater bewusst bis aufs Blut provoziert. Der stand mit geballten Fäusten da, behielt aber die Kontrolle. Meine Schwester, damals vier Jahre alt, sagte: ›Jetzt würdest mich gern hauen. Aber du darfst ja nicht!‹ Da mussten wir alle lachen.«
Ich frage Corinna Schneider, was sie über die Erziehung ihrer [201] Eltern wisse. »Ich habe meine beiden Großmütter danach gefragt«, antwortet sie. »Sie waren viel strenger. Es gab keine Diskussionen, nur Anweisungen. Manchmal war man mit der Kraft am Ende. Es wurde geschrieen und auch mal eine Ohrfeige verteilt. Es ist ihnen gelegentlich die Hand ausgerutscht, und es kam vor, dass die Väter ihre Kinder prügelten«. Beide Großmütter bedauerten in Gesprächen mit ihrer Enkeltochter sehr, so wenig Zeit für die Kinder gehabt zu haben. Sie holten es dann mit ihren Enkelkindern nach. Corinna Schneider fragt sich, wie die beiden Mütter damals, jede mit sechs Kindern, ohne Waschmaschine, ohne Spülmaschine, überhaupt noch Schlaf gekriegt hätten.
In den ersten Nachkriegsjahren, in denen Corinnas Eltern aufwuchsen, herrschte große Not. »Es musste geteilt werden, es musste alles eingeteilt werden«, weiß ihre Tochter. »Die ersten Weintrauben wurden mit der Briefwaage ausgewogen, damit es gerecht zuging. Aber ich bin mir sicher, dass meine Eltern relativ unbeschadet durch diese schwere Zeit gekommen sind, weil sie die Liebe ihrer Mütter hatten. Das hat die Kinder über vieles hinweggerettet, über traumatische Erlebnisse und über große Entbehrungen.«
Zwei Wunder
Die Mutter von Corinnas Mutter war mit ihrer Kinderschar aus Pommern geflüchtet. Ihr Überleben verdankte sie zwei Erlebnissen, die man nicht anders als ein Wunder bezeichnen kann. Tief unten im Rucksack trug sie eine Pistole mit sich, geladen mit sieben Schuss, falls die Situation ausweglos würde: sechs Schuss für die sechs Kinder, ein Schuss für sie selbst. Ein russischer Soldat durchsuchte den Rucksack, er griff aber nicht tief genug. Wäre die Pistole aufgetaucht, hätte die Frau nicht mehr lange gelebt. Bei der nächsten Gelegenheit versenkte sie die [202] Waffe in einem Gewässer. Das zweite Wunder ereignete sich am Tag vor der Zerstörung von Dresden. Die Mutter der sechs Kinder hatte Verwandte in der Innenstadt gefragt, ob sie sich mit ihren Kindern dort ein paar Tage ausruhen dürfe. Doch die Unterkunft wurde verweigert. Beim Luftangriff wurde das Haus getroffen – die Familie hätte nicht überlebt! »Großmutter hat immer wieder betont, wie dankbar sie sei, dass ihnen auf der Flucht nichts Schlimmes passiert sei«, berichtet die Enkeltochter. »Keine Vergewaltigung, kein Kind gestorben.«
Corinna Schneider wurde dazu erzogen, dass man Lebensmittel isst, bevor sie verderben. Dass man kein frisches Brot anschneidet, solange vom alten noch ein Kanten übrig ist. »Mutter und Vater haben uns klar gemacht, Lebensmittel sind mehr wert als das Geld, das man dafür im Supermarkt bezahlt. Damit darf man nicht achtlos umgehen. Sie vermittelten uns, wie viel Arbeit in unseren Nahrungsmitteln steckt«, erzählt sie. »Sie haben uns Kindern auch beigebracht, wie gut frischer Salat und frisches Gemüse ist.« Das alles gibt Corinna Schneider heute an ihre Kinder
Weitere Kostenlose Bücher