Kriegsenkel
mehr Tiefe geben möchten. Ich denke, hier befindet sich häufig auch der Schlüssel für einen neuen Zugang zu bislang ungeklärten Fragen der eigenen Identität.
[35] Zweites Kapitel
WEM ES ZU GUT GEHT, DEN BESTRAFT DAS LEBEN
[37] Ein Seminar für Kinder der Kriegskinder?
In seiner E-Mail, die Robert Bilak* mir schrieb, stand, er habe mein Buch über die Kriegskinder gelesen und ihm sei bekannt, dass ich gelegentlich Seminare für sie abhielte. Und dann seine direkte Frage: »Könnten Sie sich vorstellen, speziell für Kinder der Kriegskinder eine Gruppe anzubieten?« Ihm lag daran herausfinden, in welchem Ausmaß er selbst durch das Schicksal seiner Kriegskindereltern belastet war. Das Seminar, das ein halbes Jahr später tatsächlich stattfand, wurde von meinem Mann geleitet, der Familientherapeut und Psychotraumatherapeut ist. Ich selbst steuerte historisches Wissen bei sowie meinen Erfahrungsschatz, der sich aus unzähligen Begegnungen mit Kriegskindern angesammelt hatte. Es war das erste einer Reihe von Seminaren, in denen es laut Ankündigungstext um das Ziel ging, »die eigenen Eltern besser zu verstehen und sich von ihnen abgrenzen zu können.« Als ich Robert Bilak aus Anlass dieses Buchprojekts zwei Jahre später um ein Gespräch bat, erzählte er mir, noch heute würden sich die Teilnehmer dieses ersten Seminars regelmäßig treffen; es habe sich unter ihnen ein geschwisterliches Verhältnis entwickelt.
Über Robert Bilak muss man vor allem eines wissen: Er hat in seinem Leben alles anders gemacht als seine Eltern. Er studierte, sein Vater nicht, und seine Mutter besitzt nicht einmal eine abgeschlossene Berufsausbildung. Der Vater war stolz auf die Autos, die er sich im Laufe seines Lebens leisten konnte. Der Sohn schaffte seinen Wagen ab. Die Mutter führte bis zum Tod ihres Mannes eine konventionelle Hausfrauenehe – für Sohn Robert kommt nur eine emanzipierte Frau in Frage, die ihr eigenes Geld verdient. Der Vater ging nie unrasiert aus dem Haus. Sein Sohn braucht, um sich wohl zu fühlen, einen Drei-Tage- [38] Bart, was seiner Mutter bis heute schwer fällt zu glauben. Die Eltern nannten ein kleines Haus ihr Eigen. Der Sohn besitzt in München eine geräumige Altbauwohnung über zwei Etagen mit Dachterrasse.
Sein Vater brauchte Dauerstress
Man muss sich Robert Bilak als einen durchtrainierten, meist braungebrannten 50-Jährigen vorstellen – noch immer ohne Brille, noch immer volles Haar, das er länger trägt als heutzutage üblich. Mühelos – so sieht es jedenfalls aus – nimmt er die vielen Stufen hoch in seine Dachgeschosswohnung. Einmal im Jahr verabschiedet er sich radikal von allem Vertrauten. Dann verbringt er sechs Wochen in völliger Einsamkeit und in unberührter Natur, wie Robinson. Was der Rechtsanwalt absolut nicht leiden kann, ist Dauerstress. Sein Vater dagegen suchte den Dauerstress. Man könnte auch sagen, er war arbeitssüchtig. In seiner freien Zeit betrieb der kaufmännische Angestellte eine kleine Landwirtschaft. Zu einem richtigen Hof, von dessen Erträgen er sich und seine Familie hätte ernähren können, reichte sein Kapital nie.
Auf keinen Fall, sagt Robert Bilak, während er mir an einem Winternachmittag Tee anbietet, auf keinen Fall werde er sich totarbeiten, wie es sein Vater tat. Der starb während einer Herz-Operation, mit 59 Jahren, kurz bevor er in Rente gehen wollte. Im Ruhestand, so sein Vorsatz, sollte alles nachgeholt werden, was er sich bis dahin versagt hatte. Den frühen Tod des Vaters hat Rechtsanwalt Robert Bilak vor Augen, wenn er auf sein Lebens- und Arbeitscredo zu sprechen kommt: In seinem Beruf sei es üblich, 60 und auch 80 Stunden zu arbeiten; er aber halte den Verdienst einer 30-Stunden-Woche für ausreichend, um ein gutes Leben zu führen.
Dann beschreibt er die letzten Jahre seines Vaters, als dieser [39] kaum älter war als der Sohn heute: Wie der Vater seinen körperlichen Verfall leugnete, wie er weiter schuftete, buchstäblich bis zum Umfallen. »Ich hab’ versucht, ihn wachzurütteln«, erzählt der Sohn. »Ich hab’ gesagt: ›Du musst Sport machen! Wie wär’s, wenn wir zusammen Sport machen …‹ Er wollte aber nicht. Da habe ich ihm einen Heimtrainer geschenkt. Den hat er nicht benutzt.«
Bei so starken Gegensätzen zwischen Sohn und Vater denkt man schnell an große Spannungen und Zerwürfnisse, aber es kam nur selten zu offenen Auseinandersetzungen. Robert Bilak berichtet, er sei in einer heilen Welt aufgewachsen und
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