Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kriegsenkel

Kriegsenkel

Titel: Kriegsenkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
Vom Netzwerk:
schlechte Ehe geführt, aber was hieß das schon? Sie kannte andere Gleichaltrige, die auch nichts anderes aus ihren Herkunftsfamilien kannten. Aber mit Anfang 30 war bei ihnen der Knoten geplatzt, sie hatten geheiratet und ein Kind in die Welt gesetzt – meistens in umgekehrter Reihenfolge – und manchmal war noch ein zweites Kind gefolgt.
    Ankommen ist gefährlich!
    Einmal, während einer Therapiestunde, entfuhr Anna der Satz: »Ankommen ist gefährlich!« Es klang paradox, aber die Worte gingen ihr nicht mehr aus dem Sinn. Dann sah sie einen Fernsehbeitrag über das Schicksal der deutschen Kriegskinder und sie erschrak. Das waren ja ihre Eltern! War ihre Mutter, ein Flüchtlingskind, je angekommen? Warum, fragte sich Anna, hatte sie nie darüber nachgedacht? Warum war es in der Therapie nie Thema gewesen? Seitdem, sagt sie, sei sie dabei, sich von einer Last zu befreien. Ein Teil davon stamme von ihrem Vater, der andere Teil von ihrer Mutter. Die Last trägt einen Namen: »die langen Schatten der Vergangenheit«. Es sind die Schatten von Hitlerdeutschland, von Krieg und Fluchterfahrungen, von [273] Hunger und Armut. Die Ärztin Anna Behrend lebte, wie es für Angehörige der 60er Jahrgänge typisch ist, ohne Bezug zur Vergangenheit. Wie sollte es auch anders sein bei Menschen, die mit einer Überdosis an NS-Geschichte in der Schule und mit dem Schweigen im Elternhaus aufwuchsen?
    Umso verblüffender war für Anna, was während eines Treffens ihrer Therapie-Ausbildungsgruppe geschah. Jemand hatte die Kriegsfolgen in seiner Familie zum Thema gemacht – und alle waren darauf angesprungen. Das ganze Wochenende wurde über nichts anderes mehr gesprochen. Dabei gab es wenig Spektakuläres zu berichten. Die Eltern waren in der Regel weder sonderlich streng gewesen, noch hatten sie ihre Kinder vernachlässigt. Es gab gemeinsame Urlaube und reichlich Geschenke zu Weihnachten. Es wurde zusammen gegessen, fern gesehen und bei »Wetten dass …« mitgefiebert. Alle, die in der Ausbildungsgruppe davon erzählten, hatten ihr Familienleben als völlig normal empfunden, auch mit seinen Schwierigkeiten und Spannungen. Nirgendwo ein Hinweis, auch nicht von Verwandten und Freunden, dass etwas nicht stimmen könnte. Erst, als die Kinder erwachsen waren und sich weitgehend selbst aussuchen konnten, mit wem sie engeren Kontakt haben wollten und mit wem nicht, tauchten die ersten Fragezeichen auf. Nach und nach – häufig ein Prozess von vielen Jahren – entstand der Verdacht, das Prägende der Kindheit könne ein Defizit auf Seiten der Eltern gewesen sein: ein Mangel an tiefer gehenden Emotionen, ein Mangel an echter Aufmerksamkeit für die Kinder – auch ein Mangel an Wertschätzung, der sich später darin ausdrückte, dass sich die Eltern für die Welt ihrer erwachsen gewordenen Kinder nicht mehr sonderlich interessierten.
    [274] Ein tiefes Gefühl von Verlorenheit
    »Wir alle in der Gruppe haben gemerkt: Es ist ein Riesenthema!«, berichtet Anna Behrend. »Da sind so viele Parallelen in unseren Familien, auch im Verhalten der Eltern. Da ist eine Last, die aus einer Zeit stammt, als wir noch gar nicht geboren waren. Wir kämpfen mit unerklärlichen Ängsten, wir wissen nicht, wo unser Platz in dieser Welt ist. Wir vertrauen dem Leben nicht, wir wollen es mit aller Macht kontrollieren. Als ich sagte: ›In mir ist oft ein tiefes Gefühl von Verlorenheit‹, haben fast alle genickt.«
    Noch etwas anderes wurde sichtbar: Mit Anfang 30 glaubten die meisten, sie seien Spätzünder. Seit sie die Marke vierzig überschritten haben, können sie sich damit nicht mehr beschwichtigen. Stattdessen häufen sich die Selbstvorwürfe: Du hast doch nichts Schlimmes erlebt – was stellt du dich so an! Deine Ansprüche sind maßlos! Du hast eine Riesenmacke! Du bist nun mal eine Versagerin!
    Der Austausch zwischen den Teilnehmern des Ausbildungswochenendes führte zu einer großen Erleichterung. Kaum je zuvor hatten sie anderen gegenüber den Verdacht geäußert, es könnte vielleicht ein Zusammenhang bestehen zwischen eigenen, unüberwindbaren Schwierigkeiten und den verschwiegenen Kriegserfahrungen der Eltern. Wenn doch, schien sich niemand in ihrem Umfeld dafür zu interessieren. Therapeuten meinten: »Mag sein, mag nicht sein. Aber warum soll das wichtig sein?« Freunde und Geschwister sagten: »Du spinnst doch! Das ist doch schon so lange her …«
    Anna weiß: Ihren Eltern kann sie mit solchen Gedanken erst recht nicht kommen. Sie würden

Weitere Kostenlose Bücher