Kriegsenkel
nur verständnislos den Kopf schütteln. Dass Anna sich seit einiger Zeit für die Geschichte ihrer Familie interessiert, dass sie nach Stammbäumen fragt, das finden Mutter und Vater gut. Darin unterstützen sie ihre Tochter gern. Familienforschung zu betreiben ist erwünscht. Das Familienalbum darf sich nur nicht mit der unheilvollen [275] deutschen Geschichte überschneiden. Sobald Anna daran rührt, zucken die Eltern zurück. Fragen nach persönlichen Erlebnissen werden nur vage beantwortet. Begründung: »Man war ja noch so klein.« Mutter und Vater wurden 1940 geboren. Dass sie sich kaum an etwas erinnern können, empfinden sie nicht als Mangel sondern als Schutz. Auf keinen Fall wollen sie sich konkret vorstellen, was sie als Kleinkinder auf der Flucht oder im Luftschutzkeller erlebt haben mögen.
Großmutter schrieb im Luftschutzkeller
Anna Behrend fand im Nachlass ihrer Großmutter eine Geschichte, die diese als junge Frau während eines Bombenangriffs geschrieben hatte. Darin heißt es: »Es nimmt mein Kind des Krieges Gift im Spiele auf und wird es tragen in die jungen Tage. Nie wird der Frieden in der gleichen Unschuld lächeln wie Frieden früher es getan.« Die Großmutter litt an Depressionen. Angeblich – so die Familienversion – lag das in ihrer ›Natur‹ begründet. Dass sie bestimmte Kriegsereignisse nicht verkraftet haben könnte, wurde nie in Betracht gezogen. Anna weiß, mit ihren Eltern über die Geschichte der Großmutter zu reden, wäre völlig unergiebig. Deren Haltung ist: Anna soll aufhören, sie zu löchern. Vielleicht, mögen sie denken, sucht unsere Tochter nur einen Anlass, um uns wieder einmal angebliche Erziehungsfehler vorzuhalten. Dabei hat Anna derartige Versuche längst aufgegeben. »Es bringt nichts«, erklärt sie mir. »Meine Eltern können beide keine Kritik ertragen.« Weder wollen sie über ihre eigene Kindheit sprechen noch über die ihrer Tochter.
Anna Behrend hat alte Tanten und einen Onkel befragt, ohne nennenswerten Ertrag. »Ich habe ein paar Familienanekdoten gehört, die ich aber zum Teil schon kannte. Sobald sich unsere Gespräche in Richtung Nationalsozialismus bewegten, wurden [276] die Alten einsilbig.« Kürzlich besuchte sie ihre Heimatstadt Kiel, wo heute noch ihre Eltern leben. Sie war mit einer 90-Jährigen verabredet, einer guten Freundin ihres schon lange verstorbenen Großvaters. Aber die sagte eine Stunde vor dem vereinbarten Besuch ab, aus gesundheitlichen Gründen. Anna vermutet, es habe sich um eine Ausrede gehandelt. Die alte Dame habe sie schon vorher auf nicht nachvollziehbare Weise hingehalten. Anna wird den Verdacht nicht los, dass ihr Vater sie gewarnt haben könnte. »Er fragte mich, als ich ihm von meinem Vorhaben erzählte: ›Was willst du denn von der!? Über die Nazizeit reden oder was!?‹ Und dann hat er gelacht, als hätte er gerade einen großartigen Witz gemacht.«
Tochter Anna hat sich damit abgefunden: Familienmitglieder und Verwandte mauern. Sie wird aufhören, Fragen zu stellen, die ihrer Ansicht nach Mutter und Vater ihren eigenen Eltern hätten stellen müssen. Nun hofft sie darauf, dass Nachforschungen bei deutschen Wehrmachtsarchiven ihr weiterhelfen werden. Zu beiden verstorbenen Großvätern hat sie Rechercheanträge gestellt. Vor allem der Vater ihres Vaters interessiert sie. Er war ein Intellektueller, der laut Familienüberlieferung auch »irgendwie in der Politik mitmischte«. In den siebziger Jahren soll er ein Intimus eines Politikers vom rechten Flügel der CDU gewesen sein. Als Offizier hatte er am Russlandfeldzug teilgenommen. Seine Enkeltochter hat den 1400 Seiten starken Roman »Die Wohlgesinnten« von Jonathan Littel gelesen. In den fiktiven Memoiren eines ranghohen SS-Mannes werden nicht nur die NS-Verbrechen im Osten detailliert beschrieben, sondern auch – wovon Anna Behrend bis dahin keinerlei Vorstellung besaß – der Berufsalltag der Massenmörder: was sie taten, was sie sahen, und wie sie darüber als Intellektuelle schwadronierten.
Annas Wissen über den Vernichtungskrieg im Osten reicht aus, um sich wesentliche Fragen selbst zu beantworten. Zum Beispiel: »Hat Großvater von den Massenerschießungen der jüdischen Bevölkerung gewusst?« Natürlich hat er davon gewusst [277] – als Offizier allemal. Die Lektüre von Littels Roman hat Anna Behrend vor Augen geführt, dass die Täter der SS sich während ihrer häufigen Kontakte zur Wehrmacht zur Geheimhaltung nicht in der Lage sahen. Ihr
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