Kriegsenkel
vermisst.« Aus seiner Sicht habe er zielstrebig getan, was er wollte, und alles sei gekommen wie geplant. Heute frage er sich allerdings, warum er sich nie aus stark strukturierten, geordneten Umfeldern herausgewagt habe. »Sind die eigentlichen Gründe dafür vielleicht der Heimatverlust, die Vertreibung, das ›Auf sich gestellt sein‹ meiner Mutter oder das Bombenchaos in der Kindheit meines Vaters?«
Für einen Ingenieur, der sich an harten Fakten orientiert, sind die »weichen Wirklichkeiten« der Psychologie eine bis heute schwer zu erfassende Kategorie. Ich frage ihn, ob seine Entscheidung, sich für vier Jahre in dem männlichen Top-Milieu der Bundeswehr zu verpflichten, möglicherweise aus seinem familiären Hintergrund zu erklären sei? Habe er sich vielleicht gezielt seiner Angst gestellt und Verantwortung übernommen, weil das Vorbild des eigenen Vaters gefehlt habe? »Kann sein«, sagt er vorsichtig. »Auf jeden Fall habe ich in diesen Jahren Selbstvertrauen gewonnen.«
Jochen und sein Bruder hatten den Wunsch, der Mutter in der letzten Phase ihres Lebens soviel wie möglich zurückzugeben. Als klar war, dass sie sterben würde, wechselten sie sich am Krankenbett ab, so dass sie nie allein war. Einmal wachte sie auf und sagte nur diesen einen Satz: »Der Hans hatte in seinem Leben vor allem und jedem Angst.« Dann schlief sie wieder ein. Bis zu diesem Moment wären die Söhne nie auf die Idee gekommen, in ihrem Vater einen besonders ängstlichen Menschen zu sehen.
Seit seine Lebensgefährtin Anna sich mit den Folgen von Krieg und NS-Zeit in ihrer Familie beschäftigt, seit sie Informationen wie Mosaiksteinchen sammelt in der Hoffnung, dass sich irgendwann ein stimmiges Bild ergibt, hat sich Jochens anfängliche Skepsis in Interesse verwandelt. Nun hat auch er angefangen, sich intensiver mit der Vergangenheit seiner Familie [271] zu befassen. Er räumt ein: »Es kann eigentlich auch nicht sein, dass meine Eltern, deren Kindheit und Jugend von soviel Schrecklichem geprägt waren, ihren Kinder nur Positives weitergegeben haben.« Wenn er, frage ich ihn, nicht nur Helles sondern auch Dunkles geerbt haben sollte, was könnten die Folgen sein? Vielleicht Kinderlosigkeit? Er schüttelt langsam den Kopf. Er glaubt, er sei deshalb nicht Vater geworden, weil es seine Lebensumstände nicht hergegeben hätten.
Früh geheiratet, schnell geschieden
Während seines Studiums hatte er geheiratet. Nach dem Examen stellte er fest, dass seine Ehe gescheitert war. »Das hat mich sehr deprimiert«, bekennt er. »Ich bin ein konservativer Mensch, ich dachte, wenn ich heirate, dann hält das ein Leben lang.« Danach war Heiraten über viele Jahre kein Thema mehr. Das änderte sich erst, als er mit Anna zusammenlebte.
Im Jahr 2003 – da kannten die beiden sich 18 Monate – machte er ihr einen Heiratsantrag. Es dauerte ein weiteres Jahr, bis sie zustimmte, und noch einmal zwölf Monate, bis eindeutige Fakten geschaffen wurden. Sie verließen die Großstadt Frankfurt und bezogen im Taunus ein Haus mit Garten. In der Garage stand ein Van, den Jochen gegen sein Cabriolet eingetauscht hatte. Als das Datum der standesamtlichen Trauung feststand, setzte sich Anna hin und überlegte, wen sie zur Hochzeit einladen wollte. Das Nachdenken darüber stürzte sie mehr und mehr in Zweifel. »Sie bekam eine Art Zusammenbruch, und die Hochzeit wurde abgesagt«, berichtet Jochen. »Alles andere wird sie wohl selbst erzählen.« Dann bietet er mir an, mich mit dem Wagen ins Hotel zu bringen. Als wir uns seinem Van nähern, sagt er bedauernd: »Wenn man gewusst hätte, wie alles so kommt, hätte man doch gut drei Jahre länger mit dem Cabriolet fahren können.«
[272] Am folgenden Vormittag treffe ich Anna. Das Gespräch mit ihrer Therapeutin hat sie einmal mehr darin bestärkt, ihre Geschichte zu veröffentlichen. Wir sprechen über ihre Krise, die ausbrach, als sie die Liste der Hochzeitsgäste zusammenstellen wollte. Heute, drei Jahre danach, sagt sie: »Ich konnte es damals nicht formulieren, ich spürte nur eines: Ich kann nicht Ja sagen. Heute weiß ich, es war richtig so. Ich habe die Notbremse gezogen. Hätten wir damals geheiratet, wären wir heute nicht mehr zusammen.« Irgendetwas, das mächtiger war als sie selbst, hinderte sie daran, endlich in ihrem eigenen Leben anzukommen. Mit Ende 30 war es ihr trotz Therapie noch nicht gelungen, sich von ihrer Mutter zu lösen. Was blockierte sie? Ihre Eltern hatten eine katastrophal
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