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Kriegsgebiete

Kriegsgebiete

Titel: Kriegsgebiete Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roland Spranger
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die Straße der Siedlung
entlang. Sollte wie eine ganz gewöhnliche, entspannte
Jogging-Runde aussehen – tat es aber nicht. Daniel war ganz und
gar nicht entspannt. In den letzten Stunden hatte er eine Ahnung
davon bekommen, wie sich Richard Kimble auf der Flucht gefühlt
hatte. Nach mehreren Fernsehteams, nach der Polizei, einer
zertrümmerten Scheibe und einer öffentlichen Speichelprobe.
Für gewöhnlich fuhr kaum ein Auto durch die Sackgasse am
Stadtrand und dann wurde sie über Nacht zum Brennpunkt. Daniel
hatte die Schirmmütze tief in die Stirn gezogen  Die Augen
hinter einer Sonnenbrille versteckt. Keine Ray-Ban, sondern
Aldi-vierfünfundneunzig. Konnte sein, dass er die Brille bei ihr
bezahlt hatte. Bei der Toten. Der Frau im See. Kirsten Fritsch. Er
musste einen Moment nachdenken, bevor ihm der Name wieder einfiel.
Vermutlich würde eine Ray-Ban-Sonnenbrille bei einem
Schweißausbruch genauso beschlagen.
    Daniels
Augen zuckten wild von links nach rechts, registrierten noch die
kleinste Bewegung hinter den Gardinen. Viele kleinste
Bewegungen. Natürlich erkannten ihn alle Nachbarn trotz Kappe
und Sonnenbrille. Die wenigen Passanten, die ihm entgegenkamen,
starrten ihn erst ungläubig an, bevor sie sich mit einer
ruckartigen Kopfbewegung etwas anders zum Anglotzen suchten. Oder nur
den Blick schweifen ließen – immer Daniel aussparend. Die
andere Straßenseite wurde bis zum Äußersten
ausgenutzt.
    An
mir klebt zu viel Tod, dachte Daniel. Er hob den rechten Ellbogen und
roch unter der Achsel. Die Deo-Werbung hatte nicht gelogen.
Langanhaltender Schutz. Trotzdem: Der Tod klebt an mir. Er riecht
nicht nach Moder, wie die meisten glauben, die ihm nie nahegekommen
waren. Die ihn nur vom Besuch einer Beerdigung oder aus dem Fernsehen
kennen. Das Sterben hatte sich in Afghanistan an ihn geheftet und
jetzt war er dabei, es in der Heimat weiterzuverbreiten wie einen
Virus. Das verursachte bei seinen Nachbarn ein komisches Gefühl.
Angst. Unlustbetonte Erregung. Man kann ihnen nicht verübeln,
dass ihre Instinkte noch funktionieren, dachte Daniel. Angst ist ein
starkes Argument. Ohne kann man nicht überleben. Ohne dieses
menschliche Grundgefühl wäre die Evolutionsgeschichte
anders verlaufen. Vielleicht hätten die Säbelzahntiger
gewonnen.
    Nachdem
Daniel seine unmittelbare Nachbarschaft verlassen hatte, wurden die
Schritte leichter. Der Schweiß freundlicher. Wahrscheinlich,
weil er nicht mehr ununterbrochen aus dem Hinterhalt angeglotzt wurde
wie das Sumpfding. Normalerweise half Laufen, die Gedanken zu ordnen.
Bloß, dass dies kein normaler Tag war. Seine Gedanken schoben
sich ineinander wie Waggons bei einem Zugunglück. Das Gesicht
einer jungen Verkäuferin unter Wasser vermischte sich mit den
Porträts zweier Frauen. Lächelnd. Als die Fotos gemacht
wurden, hatten sie noch keine Ahnung davon, dass man sie ermorden
würde. Dass sie irgendwann Objekte einer Obduktion sein würden:
Aufgeschnitten, Innereien raus, alle Organe genau untersucht, auch
den Mageninhalt, bis es keine Geheimnisse mehr gab, das war ja genau
der Zweck einer Obduktion. Leichenöffnung hieß es im
Beamtendeutsch. Autopsie sagten sie meistens bei CSI. Lea hatte immer
darum gebettelt, dass sie die Serie sehen durfte. Daniel hatte es ihr
nicht erlaubt. Wegen der ganzen Leichen. Der Morde. Er wusste nicht,
wie Rainer dazu stand. Vielleicht erlaubte er es.
    Daniel
versuchte, die Bilder der toten Frauen in Einklang zu bringen. Die
Haare im Teich bewegten sich. Als würden die Haare noch leben.
Die Fotos der Polizei. Die beiden anderen Mordopfer. Daniel
versuchte, die Fotos übereinanderzuschieben, als wäre sein
Gehirn ein Bildbearbeitungsprogramm, aber sein Gehirn konnte es nicht
mit einem Computer aufnehmen. Wenigstens hatte den ermordeten Frauen
vorher keiner Befehle gegeben. Das war selten genug. In Afghanistan
war er für die Toten verantwortlich gewesen. Erst implodiert die
Verantwortung in der Seele. Dann macht das Gehirn schlapp.
Systemfehler.
    Er
bog in die Straße ein, in der Maik wohnte. Alte Arbeiterhäuser.
Ziegelbauten, bei deren Bau in den Gründerjahren zwei Toiletten
für sechs Wohnungen in drei Stockwerken ausreichen mussten.
Damals waren kinderreiche Familien noch die Regel. Schlange stehen
vor dem Klo. Und Durchfall hatten immer alle. In Afghanistan sterben
heute noch Kinder daran.
    Die
Eingangstür keuchte beim Öffnen. Schweres Holz, noch
original. Daniel rannte die Steinstufen zum ersten Stock hoch. Die
Stufen waren in

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