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Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Titel: Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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sie zu retten, sondern um sie zu erobern. Bei Gallipoli machten sie sich oft einen Spaß daraus, einen türkischen Herrn am Strand anzusprechen; sie zogen einen Kreis um ihn und erklärten ihm, das sei die Türkei. Dann forderten sie ihn auf, den Kreis zu verlassen, und teilten diesen, um die eine Hälfte als »England« und die andere als »Frankreich« zu bezeichnen, bevor sie den Türken in etwas hinüberstießen, das sie »Asien« nannten. 24
    Koloniale Vorurteile beschränkten den Einsatz, den die Westmächte den türkischen Streitkräften zutrauten. Napoleon III . hielt die Türken für träge und korrupt, während Lord Cowley, der britische Botschafter in Paris, Raglan warnte, dass »keinem Türken« eine für die nationale Sicherheit wichtige militärische Aufgabe anvertraut werden könne. Die anglofranzösischen Befehlshaber waren der Ansicht, die Türken verstünden sich nur darauf, hinter Befestigungen zu kämpfen. Man war bereit, sie für Hilfsarbeiten wie das Ausheben von Gräben einzusetzen, nahm jedoch an, dass ihnen Disziplin und Mut fehlten, um auf dem offenen Schlachtfeld an der Seite europäischer Soldaten anzutreten. 25 Der Erfolg der Türken bei der Abwehr der Russen vor Silistra (den man vor allem den britischen Offizieren zugutehielt) änderte nichts an den rassistischen Einstellungen, die noch deutlicher werden sollten, als sich das Kampfgeschehen auf die Krim verlagerte.
    * * *
    Nach Lage der Dinge behaupteten die Türken sich wacker gegen die Russen, die am 22. Juni einen letzten Ansturm auf Silistra begannen. Am Morgen des 21. inspizierte Gortschakow mit seinem Stab die Gräben vor der Arab-Tabia, wo der Angriff eingeleitet werden sollte. Tolstoi war beeindruckt von seinem Befehlshaber (den er später für sein Porträt von General Kutusow in Krieg und Frieden heranzog). »An diesem Morgen sah ich ihn zum ersten Mal im Feuer«, schrieb er seinem Bruder Nikolai. »Man merkte, dass er von dem allgemeinen Gang der Ereignisse in Anspruch genommen war; dass die Flinten- und Kanonenkugeln für ihn nicht existierten.« Den ganzen Tag hindurch beschossen 500 russische Kanonen die Befestigungen, um den Widerstand der Türken zu schwächen; das Feuer dauerte bis spät in die Nacht, denn der Angriff war für drei Uhr morgens geplant. »Wir waren alle dort«, fuhr Tolstoi fort, »und gaben uns, wie das am Vorabend einer Schlacht immer zu sein pflegt, den Anschein, als dächten wir an den folgenden Tag nicht mehr als an jeden andern; bei alledem bin ich überzeugt, dass unser Herz sich heimlich bei dem Gedanken an den Sturm ein wenig, vielleicht auch heftig zusammenkrampfte.«
    Wie Du weisst, Nikolas, ist die Zeit vor einem Gefecht die unangenehmste, ja die einzige, wo man Musse hat, sich zu fürchten, und Furcht ist eins der unangenehmsten Gefühle. Gegen Morgen und je näher der entscheidende Moment heranrückte, nahm das Gefühl der Furcht ab, und gegen drei Uhr, als alle den Raketenstrauss, das Angriffssignal erwarteten, geriet ich in so gute Stimmung, dass ich es sicherlich bedauert hätte, wenn jemand gekommen wäre und mir gesagt hätte, der Sturm würde nicht stattfinden.
    Doch was Tolstoi befürchtete, trat ein. Um 2 Uhr überbrachte ein Adjutant Gortschakow den Befehl, die Belagerung von Silistra aufzuheben. »Ich kann ruhig behaupten«, berichtete Tolstoi seinem Bruder,
    dass diese Nachricht von allen – Soldaten, Offizieren und Generalen – wie ein wahres Unglück aufgenommen wurde, besonders da man von Spionen, die häufig aus Silistria zu uns kamen und mit denen ich mich oft unterhalten konnte, erfahren hatte, dass Silistria sich nach Einnahme dieses Forts … nicht länger als zwei oder drei Tage hätte halten können. 26
    Was Tolstoi nicht wusste oder nicht berücksichtigen wollte, war die Tatsache, dass sich mittlerweile 30 000 französische, 20 000 britische und 20 000 türkische Soldaten anschickten, die Verteidigung von Silistra zu verstärken, und dass Österreich, das 100 000 Mann an der serbischen Grenze bereithielt, dem Zaren ein Ultimatum überreicht hatte, sich aus den Donaufürstentümern zurückzuziehen. Österreich hatte gewissermaßen eine Politik der bewaffneten Neutralität zugunsten der Alliierten eingeschlagen, indem es die Habsburger Truppen mobilisierte, um die Russen zum Abzug von der Donau zu zwingen. Die Österreicher, die mit Aufständen ihrer eigenen Slawen rechnen mussten, beobachteten die russische Präsenz in den Fürstentümern, die mit jedem Tag mehr nach

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