Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
einer Annexion aussah, mit Sorge. Wenn sie die Russen von Westen her angriffen, bestand eine reale Möglichkeit, dass sie ihnen die Nachschublinien auf der Donau abschneiden, ihre wichtigste Rückzugsroute blockieren und sie den Attacken der alliierten Heere aus südlicher Richtung aussetzen würden. Dem Zaren blieb nichts anderes übrig, als zurückzuweichen, bevor seine Armee vernichtet wurde.
Nikolaus fühlte sich von den Österreichern, deren Reich er 1849 vor den Ungarn gerettet hatte, zutiefst verraten. Er hatte eine väterliche Zuneigung zu dem mehr als dreißig Jahre jüngeren Kaiser Franz Joseph entwickelt und meinte, dessen Dankbarkeit verdient zu haben. Sichtlich betrübt und erschüttert über das Ultimatum, drehte er Franz Josephs Porträt zur Wand und schrieb auf die Rückseite: »Du Undankbarer!« Im Juli erklärte er dem österreichischen Gesandten Graf Esterházy, Franz Joseph habe völlig vergessen, was der Zar für ihn getan habe, und »da das Vertrauen, das bisher zum Glück ihrer Reiche zwischen den beiden Souveränen geherrscht habe, nun zerstört sei, könnten nicht mehr die gleichen innigen Beziehungen zwischen ihnen existieren«. 27
Der Zar ließ Gortschakow in einem ungewöhnlich persönlichen Brief, der vieles über seine Denkweise enthüllte, wissen, weshalb er die Belagerung aufgehoben hatte:
Wie traurig und schmerzlich es für mich ist, mein lieber Gortschakow, zur Übereinstimmung mit den hartnäckigen Argumenten von Fürst Iwan Fjodorowitsch [Paskewitsch] gezwungen zu werden … und von der Donau zurückzuweichen, nachdem so viele Anstrengungen unternommen und so viele mutige Seelen ohne Gewinn verloren wurden. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, was das für mich bedeutet. Urteilen Sie selbst!!! Aber wie kann ich anderer Meinung sein als er, wenn ich auf die Karte schaue. Nun ist die Gefahr nicht so groß, denn Sie sind in einer Position, in der Sie den unverschämten Österreichern eine schwere Strafe auferlegen können. Ich befürchte nur, dass der Rückzug die Moral unserer Soldaten schädigen könnte. Sie müssen ihre Stimmung heben und jedem von ihnen klarmachen, dass es besser ist, rechtzeitig zurückzuweichen, damit wir später – wie 1812 – angreifen können. 28
Die Russen zogen sich von der Donau zurück, wobei sie sich der Türken, die rachedurstig waren und sie verfolgten, erwehren mussten. Die Soldaten des Zaren waren müde und demoralisiert, viele hatten seit Tagen nichts gegessen, und die Zahl der Kranken und Verwundeten war so hoch, dass nicht alle auf Karren mitgenommen werden konnten. Tausende wurden den Türken ausgeliefert. Bei dem Festungsort Giurgewo verloren die Russen am 7. Juli 3000 Mann in einer Schlacht mit den Türken (teils unter dem Kommando britischer Offiziere), die den Fluss von Rusçuk her überquerten und die Armee des Zaren mit Unterstützung eines britischen Kanonenboots angriffen. Gortschakow traf nach der aufgegebenen Belagerung von Silistra mit Verstärkungen ein, musste jedoch bald den Rückzug anordnen. Der Union Jack wurde auf der Festung Giurgewo aufgepflanzt, wonach die Türken brutale Rache an den Russen nahmen. Sie töteten über 1400 Verwundete, schnitten ihnen die Köpfe ab und verstümmelten ihre Leichen, während Omer Pascha und die britischen Offiziere zuschauten. 29
Die türkischen Vergeltungsmaßnahmen hatten einen eindeutig religiösen Charakter. Sobald die Russen die Stadt geräumt hatten, plünderten türkische Soldaten (Baschi-Basuks und Albaner) die Häuser und Kirchen der christlichen, überwiegend bulgarischen Bevölkerung. Sämtliche Christen hatten ihre Habseligkeiten eilig auf Wagen gepackt und Giurgewo zusammen mit den russischen Infanteriekolonnen in Richtung Norden verlassen. Ein französischer Offizier beschrieb die Szenerie, die er ein paar Wochen später in Giurgewo vorfand:
Die Russen hatten nach ihrem Rückzug lediglich 25 Bewohner von 12 000 zurückgelassen! Nur einige wenige Häuser waren unversehrt … Die Plünderer gaben sich nicht damit zufrieden, nur Wohnhäuser auszurauben. Auch mehrere Kirchen wurden verwüstet. Ich sah mit eigenen Augen eine griechische Kirche, die in einem schrecklichen Zustand war. Ein alter bulgarischer Küster versuchte, zwischen den zerbrochenen Ikonen und Kirchenfenstern, den Skulpturen, Lampen und anderen sakralen Gegenständen, die im Altarraum aufgehäuft waren, Ordnung zu schaffen. Ich fragte ihn in Zeichensprache, wer diese Gräueltaten begangen habe, die Russen oder die
Weitere Kostenlose Bücher