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Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Titel: Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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    Ich betrat ein kleines Boudoir … Frisch geschnittene Blumen standen noch in Vasen auf dem Kaminsims; auf einem runden Tisch lagen einige Exemplare der [französischen Zeitschrift] Illustration, ein Reisesekretär, Federhalter und Papier und ein unvollendeter Brief. Den Letzteren hatte ein junges Mädchen an ihren Verlobten geschrieben, der an der Alma gekämpft hatte. Sie sprach von Sieg und Erfolg mit jener Zuversicht, die jedes Herz, besonders das von jungen Mädchen, in sich barg. Die brutale Realität hatte all dem Einhalt geboten – Briefen, Illusionen, Hoffnungen. 38
    Während die alliierten Armeen südwärts nach Sewastopol marschierten, verbreitete sich Panik unter der russischen Bevölkerung der Krim. Die Nachricht von der Niederlage an der Alma war ein vernichtender Schlag für die Moral, denn sie widerlegte den von 1812 herrührenden Mythos von der militärischen Unbesiegbarkeit Russlands, besonders im Kampf gegen die Franzosen. In Simferopol, der Verwaltungshauptstadt der Krim, war die Panik so groß, dass Generalgouverneur Wladimir Pestel die Evakuierung der Stadt anordnete. Die Russen packten ihre Habseligkeiten auf Wagen und fuhren in Richtung Perekop, in der Hoffnung, das russische Festland zu erreichen, bevor die alliierten Truppen den Zugang versperrten. Pestel, der sich krank erklärte, brach als Erster auf. Seit Beginn der Panik hatte er sich nicht in der Öffentlichkeit sehen lassen und keine Maßnahmen ergriffen, um der Unordnung entgegenzuwirken. Er hatte nicht einmal die Tataren der Stadt daran gehindert, den Alliierten Nachschubmaterial aus russischen Beständen zukommen zu lassen. Begleitet von seinen Gendarmen und einem langen Gefolge von Beamten, fuhr Pestel mit seiner Kutsche aus der Stadt und durch eine große Tatarenmenge, die höhnisch rief: »Seht, wie der Giaure ****** verschwindet! Unsere Erlöser kommen bald!« 39
    Seit dem Eintreffen der alliierten Heere war das Selbstbewusstsein der tatarischen Krimbevölkerung gestiegen. Vor den Landungen hatten die Tataren darauf geachtet, dem russischen Herrscher Treue zu schwören. Seit dem Beginn der Kämpfe an der Donaufront standen die Krimtataren unter verschärfter Aufsicht durch die russischen Behörden, und Kosaken hatten die Landgebiete mit erhöhter Wachsamkeit durchstreift. Kaum aber waren die Alliierten auf der Krim gelandet, liefen die Tataren zu ihnen über – insbesondere die jüngeren Männer, die nicht durch Jahre russischer Herrschaft eingeschüchtert waren. Sie sahen die Invasion als Befreiung und betrachteten die Türken als Soldaten des Kalifen, zu dem sie in ihren Moscheen beteten. Tausende von Tataren verließen ihre Dörfer und strömten nach Jewpatorija, um die Alliierten zu begrüßen und der neuen »türkischen Regierung« Treue zu geloben, die ihrer Meinung nach dort gegründet worden war. Die Angreifer hatten den russischen Gouverneur von Jewpatorija umgehend durch Topal Umer Pascha, einen einheimischen tatarischen Händler, ersetzt. Außerdem brachten sie Mussad Giray mit, einen Nachfahren der alten Herrscherdynastie des Krim-Khanats, der seine Landsleute aufrief, die Invasion zu unterstützen. *******
    In der Hoffnung, belohnt zu werden, überbrachten die Tataren den alliierten Soldaten Vieh, Pferde und Wagen. Einige arbeiteten als Spione oder Kundschafter für die Angreifer. Andere schlossen sich den Trupps an, die durch die Landschaft ritten und den russischen Grundbesitzern drohten, ihre Häuser anzuzünden oder sie sogar zu töten, wenn sie der »türkischen Regierung« nicht ihren ganzen Viehbestand, ihre Lebensmittel und Pferde überließen. Die mit Säbeln bewaffneten tatarischen Rebellen stülpten ihre Schaffellmützen um, zum Symbol für den Sturz der russischen Macht auf der Krim. »Die gesamte christliche Bevölkerung der Halbinsel hat Angst vor den Tatarenbanden«, berichtete Innokenti, der orthodoxe Erzbischof der Diözese Cherson-Taurien. Ein russischer Landbesitzer, der auf seinem Gut ausgeraubt wurde, glaubte, die Reiter seien von ihren Mullahs dazu angestiftet worden, Rache an den Christen zu üben, da die muslimische Herrschaft nun zurückkehren werde. Tatsächlich begingen die Rebellen in einigen Gegenden Gewalttaten nicht bloß an Russen, sondern auch an Armeniern und Griechen, zerstörten deren Kirchen und ermordeten sogar Priester. Die russischen Behörden nutzten diese religiösen Ängste, um Unterstützung für die Armeen des Zaren zu gewinnen. Im September reiste Innokenti

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